Solange die Nachtigall singt
euch zugeflogen ist? Warum? «
»Wir mussten es wissen«, sagte Joana. »Wir mussten wissen, ob du es kannst. Und ob du es tust.«
Jari schloss einen Moment die Augen. Ich kann ihre Stimmen doch unterscheiden, dachte er, sie sind nicht gleich, das ist ein Trugschluss. Sie ähneln sich nur. Jolanda hatte die ruhigste Stimme, ruhig und kühl. Joanas Stimme ist kess und blitzend heiß, und Jaschas Stimme ist sanft und weich.
»Du bist mutig«, sagte Jolanda. »Du hast die Bärin angegriffen. Mit nichts als einem Messer.«
»Du hättest die Bärin getötet«, sagte Jascha.
»Was hast du dir gewünscht, in dem Moment, als du sie angegriffen hast?«, fragte Joana.
»Ich habe mir gewünscht, ich hätte ein Gewehr.«
Sie nickten, ihre Glanzhaare wippten um ihre Schultern wie dunkle Umhänge im Kerzenlicht.
»Schau«, sagte Jolanda und griff unter die Werkbank. Und legte etwas auf den Tisch.
Ein Gewehr.
»Es gehört zu diesem Haus«, sagte Joana. »Der Alte hat es hiergelassen. Es ist mehr als genug Munition dort in den Schränken. Aber wir benutzen sie nicht. Wir können nicht töten, das weißt du bereits.«
Jolanda stellte das Gewehr aufrecht hin, führte ihren Zeigefinger zum Mund, um ihn zu küssen, und strich langsam mit diesem Finger über den Lauf, der schwarz glänzte wie ihr Haar. Die Geste war suggestiv wie alle anderen Gesten, es war nicht nur ein Gewehrlauf, über den sie strich. Jari spürte die Hitze zwischen seinen Leisten aufsteigen. Jolanda nahm seine Hand und ließ auch sie über die Waffe streichen. »Sie gehört dir«, wisperte sie. »Solange du hier bist.«
»Das ist es, wozu wir dich brauchen, verstehst du?«, flüsterte Jascha. »Wir brauchen einen Jäger. Tronke schießt keine Wölfe. Und sicherlich keine Bärin.«
»Du … du hast gesagt, du fürchtest dich nicht vor den Wölfen …«
Sie sah weg, beschämt. »Das war eine Lüge. Wir fürchten sie mehr, als du dir vorstellen kannst.«
»Und wir fürchten die Bärin«, sagte Jolanda. »Tronke hat ihre Spuren gesehen, aber wir, wir haben sie selbst gesehen. Du hast gehört, was sie sagen im Dorf. Dass es Leute gibt, die in diesem Wald verschwunden sind. Wir wollen nicht verschwinden, nicht eines Tages zu blutigen Fetzen zerrissen werden. Der Tod ist zu groß und zu furchtbar, niemand kann sich vorstellen, eines Tages nicht mehr zu sein. Keiner hat es bisher geschafft, die Bärin zu schießen. Keiner von denen, die für uns gejagt haben im Nebelwald. Vielleicht gelingt es dir.«
Wie viel sie ihm zutrauten, diese drei! Er sah von einer zur anderen, sah in ihre dunklen Augen, deren Geheimnis er noch immer nicht gelüftet hatte. Er liebte sie. Nicht eine von ihnen. Nicht einen Teil. Alle drei.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann nicht schießen. Ich habe noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt.«
»Du wirst es lernen«, flüsterte Joana. »So, wie du gelernt hast, den Acker zu pflügen und die Äpfel zu pressen. So, wie du gelernt hast, was Schönheit bedeutet.«
An diesem Abend sah er Jolanda zum ersten Mal die Harfe spielen. An diesem Abend war sie es, die am Kamin bei ihm auf dem Sofa saß. Und Jascha und Joana hatten sich zurückgezogen hinter die spanische Wand, ließen sie – beinahe – mit Jari allein. Natürlich waren sie da, er sah die Schemen ihrer Körper hinter der durchbrochenen Wand, und er hörte das Cello und die Oboe von dort. Ein wenig kam es ihm vor, als wäre da ein Kratzen im Klang der Instrumente, als müssten sie sich räuspern. Aber vielleicht war es nur die Perfektion der Harfe direkt neben ihm, die ihm Cello und Oboe weniger perfekt erscheinen ließ.
Die Töne waren genauso durchscheinend und unerklärlich wie zu den Zeiten, in denen sie noch körperlos durchs Haus geklungen waren, in denen Jolanda sich ihm gezeigt und doch nicht gezeigt hatte. Er trank den bittersüßen Wein und sah zu, wie ihre Finger über die gespannten Saiten glitten, und stellte sich Dinge vor …
Ja, ich werde euch beschützen, dachte er. Ich werde mich verwandeln, vom Zeisig in einen Jäger, für euch. Und eines Tages werdet ihr den Jäger für seine Dienste entlohnen. Meine drei unschuldigen Kinder, ihr braucht viel mehr als einen, der nur jagt. Wir brauchen einander. Und wir haben einander. Nichts eilt. Eines Nachts werde ich nicht mehr alleine schlafen, und eines Tages werdet ihr mir erzählen, was geschehen ist im Wald. In der Tiefe eurer dunklen Augen. Warm ist es, warm unter den Decken und Fellen am Kamin, und der
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