Solange die Nachtigall singt
Winter wird lang und kalt.
Er erwachte in der Nacht davon, dass das Fenster hin- und herschlug. Draußen ging der Wind ums Haus. Die Schatten im Raum bewegten sich, schwankten, tanzten. Das Licht des Mondes war flüssig und silbern. Jari setzte sich auf. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, daher der Durchzug, daher das Hin-und-her-Klappen des Fensters. Hatte er die Tür am Abend nicht geschlossen?
In der Ritze zwischen Tisch und Wand steckte etwas. Ein Umschlag, auf dem winzig klein in einer Ecke sein Name stand: Jari . Er spürte, wie seine Finger klamm wurden vor Aufregung, als er danach griff. Jemand war hier gewesen. Aber wer? Und warum?
Er riss den Umschlag mit dem Zeigefinger auf. Diesmal war der Brief darin nicht nass und unleserlich. Dafür war er sehr kurz. Tu nicht, was sie sagen, las Jari. Fass sie nicht an. Du bist der Tod.
»Ich?«, flüsterte er und lachte. »Der Tod? Das ist abstrus.«
Er schüttelte den Kopf, schob Brief und Umschlag unter die Matratze. Wer auch immer die Briefe schrieb, er versuchte, ihn loszuwerden. Vielleicht war es gerade deshalb gut, zu bleiben.
Er stieg in seine Kleider. Er war jetzt zu wach, um noch einmal einzuschlafen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, draußen ein Stück zu gehen, seine Gedanken wieder einmal zu ordnen. Unten im Flur hingen die Mäntel der Mädchen, drei Mäntel an drei Haken. Wo war die schwarze Windjacke aus dem Supermarkt? An ihrem Platz hing jetzt eine andere Jacke, eine braune Wachsjacke, gefüttert mit Schaffell. Eine winzige Stickerei zierte ihren Kragen: ein Bär mit wütend erhobenen Pranken. Jari strich darüber und lächelte.
»Die Jacke des Jägers«, flüsterte er, und es hörte sich richtig an. Morgen würde er sie tragen.
Neben der Jacke hing, an einem weiteren Garderobenhaken, die Flinte. Er fuhr mit dem Finger darüber, wie Joana es getan hatte. Doch die Hand, mit der er das schwarze Metall streichelte, zitterte.
»Was denn?«, schalt er seine Hand leise. »Hast du Angst? Angst, die Hand eines Jägers zu sein?«
Er wusste, er durfte sich nicht erlauben, Angst zu haben. Es gab ein Mittel dagegen. Er ging in die Küche, ohne Licht zu machen. Er erinnerte sich genau, wo die Schale mit den getrockneten Pilzen stand. Er nahm eine Handvoll heraus, stellte die Schale zurück, kaute langsam. Er brauchte den Mut, die Leichtigkeit, die Unbesiegbarkeit der Fliegenpilze, er brauchte sie jetzt, dringend. Er spürte nichts. Vielleicht waren es doch keine Fliegenpilze?
Er wollte die Jacke anziehen, hinausgehen in die Nacht – da hörte er ein Geräusch aus dem ersten Stock. Es war kein Weinen. Es war etwas Unterdrücktes, etwas, das nicht gehört werden wollte.
Als Jari die Treppe hinaufstieg, schienen ihm die Stufen ein wenig nach hinten geneigt. Ein wenig schräg und asymmetrisch. Im Flur blieb er stehen. Es war jetzt still, doch da lag ein goldener Streifen Licht auf dem Boden: eine feine helle Linie zwischen heute und morgen, zwischen Traum und Realität. Ein Streifen von Kerzenlicht.
Wer war in diesem Zimmer? Joana? Jolanda? Jascha? Welche von ihnen teilte seine Schlaflosigkeit?
Er trat auf die Tür zu. Stellte sich vor, wie Joana von einer Zeichnung aufsah, in ihren Augen blitzender Spott. Hat sich der Zeisig im Haus verirrt, armes Vögelchen?
Wie Jolanda im Bett saß, ein Buch in der Hand, ihr Blick ruhig und kühl. Jari, da bist du. Ich habe gewartet.
Wie Jascha herumfuhr, am Fenster, ertappt. Vielleicht hatte sie gesungen. Jari? Ich muss dir etwas erzählen.
War dies die Nacht, in der eine von ihnen reden würde? Ihm alles erklären?
Er hörte jetzt wieder etwas dort hinter der Tür, etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen. Es war nicht das Schluchzen eines Kindes. Er ging in die Knie, brachte sein eines Auge ganz nah ans Schlüsselloch … und versteinerte.
Es war nicht Joana, die dort allein beim Licht der Kerze saß. Es war nicht Jolanda. Es war nicht Jascha. Es waren alle drei. Die Wände des Raumes bestanden beinahe vollständig aus Spiegeln, und er konnte nicht sagen, wie viele Kerzen eigentlich brannten, eine oder drei, dreißig oder dreihundert, ihr Licht wurde zu oft widergespiegelt, und er begriff nicht, weshalb eine ungerade Anzahl dabei herauskam. Einen Moment lang war er sich auch unsicher, wie viele Personen sich tatsächlich im Raum befanden, eine oder drei, dreißig oder dreihundert. Aber es waren drei, es mussten drei sein: die drei Schwestern. In einer Ecke zwischen den Spiegeln stand ein Bett, ein sehr
Weitere Kostenlose Bücher