Solange die Nachtigall singt
wieder zurückzufinden. Brauchen sie den mühsamen Weg durch die Klamm nicht mehr zu gehen.«
»Ja«, sagte Jari und schüttelte sich. »Durch die Klamm. Ist je einer der Felsbrocken von ihrem Rand hinuntergestürzt?«
Tronke zuckte die Schultern. »Ich gehe selten dorthin. Du musst da entlang, wenn du zum Haus der Mädchen willst. Man sieht sich.« Damit tippte er an seine Mütze und verschwand, begleitet vom Licht seiner Taschenlampe, zwischen den Bäumen.
»Man sieht sich«, wiederholte Jari benommen.
Er schlug die Richtung ein, die Tronkes Hand ihm gewiesen hatte, und wie beim letzten Mal behielt Tronke recht: Eine knappe Stunde später stand Jari vor der Hintertür des efeubewachsenen alten Hauses – zwischen den Fingern das Hasenfell, das Tronke ihm in die Hand gedrückt hatte. Es war jetzt ganz dunkel, die Nebel waren der Nacht gewichen, und an einem klaren Himmel hingen tausend Juwelensterne. Da war sie wieder, die Schönheit.
Aus dem Apfelgarten höre Jari leise Stimmen. Er ging ihnen nach, um das Haus herum, zur Vorderseite. Nein, die Stimmen kamen nicht aus dem Apfelgarten. Sie kamen aus dem Schuppen. Dort brannte das flackernde Licht von Kerzen.
»Hallo?«, rief Jari leise. Die Stimmen verebbten wie eine sanfte Welle. Sie wichen einem Schweigen, das ihn erwartete. Er ging hinüber, öffnete langsam die alte Holztür – und blieb im Türrahmen stehen, blinzelnd.
Er war nur ein Mal hier gewesen, als er den Pflug hergebracht hatte, und damals hatte er sich nicht genauer umgesehen. Jetzt stand auf einer alten Werkbank ein Kerzenleuchter mit drei Armen, in denen wiederum je drei Kerzen brannten. Alte Schränke, Stühle, Bretterstapel und große, teilweise gesprungene Spiegel warfen ein seltsames Schattenspiel an die Wände. Hinter der Werkbank warteten, ins Tausendfache vervielfältigt von den Spiegeln, die überall lehnten, die Mädchen.
Jari zählte. Er zählte noch einmal. Er zählte wieder.
Doch sooft er auch zählte, es waren nicht zwei.
Es waren drei.
Drei identische, makellose, schwarzhaarige Mädchen, die ihn mit drei identischen, tiefdunklen Augenpaaren ansahen. Er dachte an die Narbe des Mädchens, das er für Jascha gehalten hatte, des Mädchens in der Schlucht. Jene Narbe unterhalb ihres Ohres. Jetzt, im Dämmerlicht des Schuppens, sah er die Narben nicht, aber sie waren da. Drei Narben, drei Mädchen. Sie standen wie an einem Altar.
Jari griff sich an den Kopf, ihm war auf einmal schwindelig, er suchte Halt an der breiten, klobigen Werkbank, warf das Hasenfell hin und stützte sich mit beiden Armen darauf.
»Das … das kann nicht wahr sein«, keuchte er. »Hört es denn nie auf? Werden es denn immer mehr, immer mehr und mehr, bis das ganze Haus voll ist von euch? Bis ich in eurer Schönheit ertrinke?«
»Nein«, sagte das Mädchen ganz links und lächelte, und die beiden anderen Mädchen lächelten ebenfalls, ein identisches Lächeln. »Nun hat es ein Ende, mein Zeisig. Wir sind drei, wir waren stets drei, und wir bleiben drei. Hast du es denn nicht von Anfang an gewusst?«
Jari schüttelte den Kopf. »Wo … wo hat sich die Letzte von euch die ganze Zeit über versteckt?«
»Nirgendwo«, antwortete das Mädchen in der Mitte.
»Ich war hier«, sagte das Mädchen ganz rechts. »Die ganze Zeit über. Du hast mit mir gesprochen und mit mir am Tisch gesessen, ich habe dir Wein eingeschenkt und dir von den Rosenblättern in den Marmeladengläsern erzählt, gerade heute. Jolanda. Jolanda ist mein Name.«
»Jascha, Joana, Jolanda«, flüsterte Jari.
Sie nickten, alle drei.
»Ich bin Joana, die Älteste«, sagte das Mädchen in der Mitte. »Die Älteste um Minuten. Jascha ist die Jüngste, und Jolanda steht zwischen uns. Sie steht immer zwischen uns, sie schlichtet, wenn wir streiten, sie bringt uns zusammen, wenn wir auseinanderdriften. Denn wir müssen zusammenhalten. Zusammenhalten gegen die Welt.«
»Als unsere Mutter uns zur Welt brachte, ist sie gestorben«, sagte die Dritte, die Jascha sein musste. »Wir haben nur uns.«
»Und dich«, sagte Jolanda leise. »Jetzt haben wir dich.«
»Du bist mutig«, sagte Joana mit einem leisen Lachen. »Du hast gegen die Bärin gekämpft.«
Da kehrte die Wut in Jaris Kopf zurück, und er hieb mit der Faust auf das Hasenfell.
»Was sollte das? Was habt ihr damit bezweckt? War das nur ein Spiel, das ihr gespielt habt, damit ihr wieder über mich lachen könnt? Den dummen Tischlergesellen, den verwirrten, verirrten kleinen Vogel, der
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