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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nicht freundlich war.
    »Es ist nicht wichtig, was ihr sagt«, sagte der Mann, der manchmal freundlich war und ihre Sprache sprach. »Was könntet ihr schon sagen? Wisst ihr denn, wo ihr seid? Wisst ihr irgendetwas?«
    Das erste kleine Mädchen schüttelte den Kopf.
    Das zweite kleine Mädchen schüttelte den Kopf.
    Das dritte kleine Mädchen dachte, dass es eine ganze Menge wusste. Sie wusste, dass der freundliche Mann ihnen nichts tun würde. Sie wusste, dass ihr Vater auf sie wartete und dass er es früher oder später schaffen würde, sie zu befreien. Sie wusste, dass er sie liebte.
    Sie wusste, dass die Wolken am Himmel existierten, obwohl sie sie lange nicht mehr gesehen hatte. Sie wusste sogar, wie lange sie mit den beiden Männern unterwegs waren, von Ort zu Ort, von Keller zu Keller, heimlich und stets bemüht, ihre Spuren zu verwischen. Sie hatte die Tage gezählt, im Gegensatz zu ihren Schwestern. Es waren 487. Eine unglaubliche Anhäufung von Tagen. Ein Jahr und vier Monate. Sie wusste, dass vor 219 Tagen ihr siebter Geburtstag gewesen war und in 146 Tagen ihr achter wäre.
    Der freundliche Mann wählte und wartete. Dann hielt er den Hörer dem ersten kleinen Mädchen hin, und sie hörten alle, wie am anderen Ende der Leitung eine Stimme fragte, wer da sei. Die Stimme klang sehr alt. Sie wiederholte ihre Frage mehrere Male, bis eines der kleinen Mädchen schließlich Mut fasste und ein Wort in den Hörer sprach. »Papa?«
    »Joana!«, rief die sehr alte Stimme am anderen Ende der Leitung, und sie wunderten sich, weil ihr Vater sonst viel jünger geklungen hatte. Aber er war es; er war der Einzige, der ihre Stimmen auseinanderhalten konnte. »Wo seid ihr? Geht es euch gut? Alles läuft verkehrt, wir kriegen keine Verhandlungen mit diesen Leuten zustande, ich wünschte …«
    Ein Klicken in der Telefonleitung ließ den Mann neben Jolanda zusammenzucken, und ihr Vater brach ab. Dann sprach er weiter, hektisch jetzt, lauter, als könnte er das Klicken damit im Nachhinein übertönen. Aber niemand hörte seine Worte, denn der Mann neben den Mädchen, der weniger freundliche, sagte laut: »Da ist noch jemand in Leitung. Schnell. Sagt, was ihr sollt sagen.«
    Er hielt ein Stück Papier hoch. Und das kleine Mädchen, das den Hörer hielt, las, stockend, zögernd. »Du musst … uns zurückholen. Wenn du nicht tust, was … was sie wollen, dann … dann werden sie …«
    »Uns töten«, sagte das zweite kleine Mädchen und riss ihrer Schwester den Hörer aus der Hand. »Abstechen«, sagte sie in den Hörer. »Den Hals umdrehen. Eine Kugel in den Bauch jagen. Ertränken, erhängen, ersticken. Den Garaus machen. Es dauert nicht mehr lange.«
    »Das steht nicht auf dem Papier!«, flüsterte der freundlichere Mann.
    Das zweite kleine Mädchen lächelte ihn an. »Macht nichts«, sagte es. »Es ist trotzdem wahr.«
    »Nein!«, schluchzte das erste kleine Mädchen und riss den Hörer an sich, drückte ihn gegen die Brust, als wäre er ein Trost spendendes Stofftier.
    »Du musst kommen!«, rief es, merkte dann, dass er es nicht hören konnte, und hielt den Hörer wieder hoch. »Gib ihnen doch, was sie haben wollen!«
    »Meine drei Nachtigallen«, sagte die sehr alte Stimme ihres Vaters. »Ich komme bald. Könnt ihr mir sagen, wo ihr seid?«
    »In einem Haus«, sagte das erste kleine Mädchen, »ohne Möbel. Mit zwei Männern.«
    »Im Erdgeschoss«, sagte das zweite kleine Mädchen und beugte sich über den Hörer. »Da sind Planen vor den Fenstern.«
    Dann nahm das dritte kleine Mädchen den Hörer. »Am Ende der Welt«, sagte sie. »Wo es nichts mehr gibt außer Telefonen.«
    »Singt für mich«, bat ihr Vater. »Singt für mich, meine Nachtigallen.«
    Das dritte kleine Mädchen hörte die Tränen in seiner Stimme. »Er sagt, wir sollen singen«, erklärte es und hielt den Hörer in den Raum.
    Sie sahen sich an. Sie hatten so oft für ihn gesungen, an all den Orten in jenem fernen Land, von dem sie nur Zäune und Stacheldraht kannten und Autos mit getönten Scheiben.
    »Ihr Kinderlein kommet«, begann das erste kleine Mädchen.
    »So kommet doch all!«, fielen die beiden anderen mit ein.
    Und das dritte kleine Mädchen wunderte sich, warum sie ein Weihnachtslied sangen, wo es doch gar nicht Weihnachten war. Sie begriff es, während sie sangen. Es war das Lied, von dem sie alle am meisten Strophen kannten. Einer der Männer, der weniger freundliche, begriff es beinahe gleichzeitig mit ihr, riss ihr den Hörer aus

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