Solange die Nachtigall singt
draufgängerischer Satz, den er zu Hause wiederholen konnte. Sieh mal an, würde Matti sagen, unser schüchterner Cizek wird erwachsen. Zuerst das Mädchen, dann die Wanderung.
Denn war der Grund, aus dem Jascha ihn mitnahm, nicht eindeutig? Sie brauchte einen, der die Einsamkeit vertrieb. Sie brauchte einen Bettgefährten für diese Nacht. Und wenn da noch etwas war, etwas Dunkles, Fremdes hinter ihrem eindeutigen Ziel wie das Dunkle, Fremde in dem Bild … dann wollte er jetzt in diesem Moment nichts davon wissen.
Es war weit bis zu dem Haus im Wald, weiter, als er gedacht hatte. Ihre Wanderung durch den bergigen Wald zog sich Stunde um Stunde hin. Einmal durchquerten sie eine Klamm, hohe Felswände säumten ihren Pfad zu beiden Seiten, und Jari sah die Bäume mit ihren Ästen über die Felsen sehen wie neugierige Wächter. Der Fluss, der die Klamm einst gegraben hatte, war verschwunden, der Boden war bedeckt mit kunstvoll gefärbten Herbstblättern. Doch es war kalt in der Klamm, das Herbstlicht drang nicht auf ihren Grund, und Jari spürte eine gewisse Erleichterung, als die Felsen niedriger wurden.
»Gibt es keinen anderen Weg?«, fragte er fröstelnd.
Jascha zuckte die Schultern. »Man könnte vielleicht über die Felsen klettern, außen herum, über die Gebirgshänge. Aber es wäre gefährlich und ein weiter Umweg dazu. Die Klamm ist wie ein breiter Weg.«
Jari sah sich um. »Ein breiter Weg«, murmelte er. »Sie ist mehr wie … ein Tunnel. Ich mag sie nicht.«
»Aber wenn man hier ist«, entgegnete Jascha, »weiß man, dass man die Hälfte des Weges geschafft hat.«
Der Nachmittag kam und ging, das Licht wechselte seine Farbe, von Gold zu Rot, von Rot zu Violett, und zwischen den Bäumen kroch die Dämmerung heran. Wenn die Müdigkeit Jari zu übermannen drohte, stellte er sich vor, was ihn erwartete: stellte sich Jascha vor, die ihren Mantel ablegte, die sich, ebenfalls erschöpft, auf ein weiches Sofa fallen ließ; sie schob in seiner Vorstellung ihr Kleid hoch, höher und höher … Sie trug nichts darunter, sie winkte ihn zu sich heran … Diese Bilder verjagten die Kälte des Abends und auch die Müdigkeit.
Noch immer ging es hinauf und hinab, um Gruppen von Felsen herum, und Jari erkannte längst keinen Weg mehr, dem sie folgten. Die Vögel verstummten, einer nach dem anderen.
»Jetzt sind wir bald da«, sagte Jascha.
»Woher weißt du das?«, flüsterte Jari. »Es ist dunkel wie in einem Keller hier …«
Sie legte den Finger an seine Lippen. »Kein Keller«, erwiderte sie, sanft, aber bestimmt. »Es ist nur der Wald.« Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich, und er stolperte, ungeschickt und müde, über morsche Äste und durch Vorhänge von Ranken. Wenn es ein Haus im Wald gab – gab es denn keine Straße, die zu diesem Haus führte?
»Gleich, gleich …«, wisperte Jascha.
Und da erhob ein anderer kleiner Vogel seine Stimme, ganz nah. Seine Melodie war süß und zugleich voller Trauer, und Jari kannte seinen Gesang. Zu Hause, in den Sommerzweigen des weißen Jasmins, hatte dieser Vogel jede Nacht vor dem Küchenfenster gesungen, klein und unscheinbar grau: eine Nachtigall. Sie standen und lauschten, dicht nebeneinander, und Jari fühlte, dass Jascha wieder begonnen hatte zu zittern.
»Was ist?«, fragte er. »Es ist nur eine Nachtigall.«
»Still!«, flüsterte Jascha und löste ihre Hand aus seiner, und er sah im allerletzten Licht, wie die schwarzen Schatten ihrer Hände sich dem Gesang entgegenstreckten. »Still, still, meine Nachtigall!« Dann packte sie seine Hand abermals und zog ihn mit sich. Sie rannten durchs dunkle Unterholz, als flöhen sie vor dem winzigen Vogel. Und plötzlich war da die dunkle Mauer eines Hauses direkt vor ihnen. Jaschas Hände fanden eine Tür, rissen sie auf und zogen Jari hinein. Er hörte, wie sie einen Riegel vor die Tür legte, vernahm das Zischen eines Streichholzes … Eine Kerzenflamme fraß die Dunkelheit. Jari sah, dass er in einem Flur stand. Neben ihm lehnte Jascha an der Wand, den Kerzenhalter in Händen, keuchend vom Rennen.
»Es war nur eine Nachtigall«, wiederholte Jari. Dann sah er sich um. »Ist die Tür nie verschlossen?«
»Doch«, flüsterte Jascha. »Jetzt ist sie verschlossen. Nichts kann von draußen herein. Sorge dich nicht, mein Wanderer.«
Aber nicht ich bin es, dachte Jari, der sich sorgt. Er wollte den Arm um ihre schmalen Schultern legen, ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte, er sah in
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