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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Einsatztruppe vereinbart hatte.
    Es ging los.
    Er übergab den schwarzen Koffer ohne ein Wort. Der Mann öffnete ihn, seine Waffe entsichert, nahm das einzelne Blatt heraus und überflog die Details des Vertrags. Studierte lange die offiziellen Stempel. Das Papier war wertlos, wertlos wie der Diplomatenkoffer. Er sah den Mann an und fragte sich, ob er das im Grunde wusste. Die beiden würden diesen Wald nicht lebend verlassen, sie hatten sich selbst eine Falle gestellt.
    Waren sie wirklich verzweifelt genug, um zu glauben, dass ihr Plan aufging? Nichts kümmerte ihn weniger. Er würde die Mädchen sehen. Jetzt. Und er würde sie nicht nur sehen. Er würde sie mitnehmen, hinaus aus dem grünen Labyrinth und hinaus aus dem größeren Labyrinth der Angst, in dem sie die letzten beiden Jahre verbracht hatten.
    »Zögern Sie die Sache hinaus«, hatte der Chef der Einsatztruppe gesagt, »gewinnen Sie so viel Zeit wie irgend möglich. Meine Leute müssen einen geeigneten Standpunkt im Wald finden, wir kennen das Terrain nicht, aber wir haben gute Karten … Sprechen Sie mit den Mädchen, solange Sie können, sprechen Sie laut. Lassen Sie sich nicht zu heroischen Taten hinreißen. Sprechen Sie nur, und gewinnen Sie Zeit.«
    Der Mann winkte: Er sollte ihm folgen. Er bemühte sich, eine Menge Lärm dabei zu machen. Die Herbstblätter halfen ihm raschelnd und knisternd dabei, trockene Äste brachen unter seinen Stiefeln. Dann stand er am Eingang einer steilen Klamm. Es gab keinen Fluss, vielleicht war er ausgetrocknet, die Klamm war wie ein Tunnel aus hohen Felswänden, dessen Decke die überhängenden Äste von Bäumen und Sträuchern bildeten, hoch oben. Große Felsbrocken lagen dort zwischen den Bäumen, unangenehm nah am Rand des Abgrunds.
    Die Klamm war der perfekte Ort für das Sondereinsatzkommando, eine Falle in einer Falle. Sie würden den Weg dorthinauf schon finden, sie würden sich am Rand der Schlucht verteilen, unsichtbar zwischen den Bäumen und Felsen …
    Er war beinahe am Ziel.
    »Sie sind hier«, sagte der Mann vor ihm leise. »Die Mädchen. Ganz nah. Sie können gleich mit ihnen sprechen.«
    Er nickte. Er ging langsam. Zeit gewinnen. Keine heroischen Taten.
    Da begann oben in den Ästen eines Baumes eine Nachtigall zu singen, es war seltsam, mitten am Tag; es war wie ein Zeichen. Ja, alles würde gut werden.
    Und dann hörte er die Stimme seiner jüngsten Tochter, klar und deutlich, verstärkt von den Felswänden der engen Klamm: »Solange die Nachtigall singt …«
    Er merkte erst, dass er rannte, als der Mann ihn zurückrief. Er ließ sich nicht zurückrufen. Er stürzte vorwärts, er vergaß alles, er musste sie sehen, sie in seinen Armen spüren, jetzt, sofort.
    Sie standen in einer Nische im Fels, alle drei, ihre Hände aneinandergefesselt, sie waren so viel größer, als er sie in Erinnerung hatte, beinahe keine Kinder mehr. Er würde sich nicht mehr von ihnen trennen lassen, nie wieder. Sie sahen ihm entgegen, er breitete die Arme aus, noch drei Schritte trennten ihn von den drei kleinen Mädchen – da erreichte der Mann ihn, packte ihn, riss ihn zurück. Und als er sich umdrehte, sah er, was der Mann sah. Am Eingang der Klamm standen zwei Männer. Ihre braun-grüne Uniform war als Tarnung gedacht, doch zwischen den glattgrauen Felsen sah man sie deutlich.
    Er ahnte, was geschehen war.
    Sie mussten gehört haben, wie der Mann ihn zurückrief, seine rennenden Schritte, sie mussten gedacht haben, etwas wäre schiefgegangen. Sie waren ihm gefolgt, um zu helfen.
    »So«, sagte der Mann, dessen Hand noch immer auf seiner Schulter lag. »Also sind Sie nicht allein wie versprochen.«
    Er wusste nicht, was er sagen sollte. Was richtig war. Er nickte. »Da sind mehr«, sagte er. Vielleicht half es. Vielleicht nicht. »Sie sind überall. Es hat keinen Sinn. Es ist besser, wenn Sie aufgeben. Besser für Sie, in jedem Fall.«
    Der Mann sah nach oben und machte eine kurze Handbewegung. Und dann zerschnitt ein Schuss die Luft. Er hörte ihn und wusste, was er bedeutete. Er hob die Hand an seine Brust, aber sie kam nie dort an. Er verlor vorher das Gleichgewicht. Er sah die Mädchen hinter dem Mann, reglos, er sah ihre Augen. Ihre Augen, ihre dunklen Augen, tief wie Waldseen, begleiteten ihn über die Grenze. Er wollte ihnen noch so viel sagen.
    Ich liebe euch. Es tut mir leid. Alles hätte anders sein sollen. Ich …
    Aber es gab kein Ich mehr, er wusste es, als er fiel. Es gab nur noch die drei kleinen

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