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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Tisch zurück in einen Tisch, ohne Narben, ohne Straße.
    Er sah die Mädchen jetzt wieder klarer. Sie trugen Schwarz an diesem Abend. Eine Beerdigung für den Hasen, dachte Jari. Ich, ich habe bestimmt, dass er stirbt, dass er aufhört zu existieren, dass er sich in etwas verwandelt, das essbar ist. Er lächelte zurück.
    »Cizek, Jäger«, sagte Joana, »hast du die Macht wiedergefunden?«
    »Die Macht … ja«, murmelte er. »Die Macht über Leben und Tod.«
    Sie schüttelte den Kopf, lachend. »Nein. Die Macht über das, was du siehst und fühlst. Die Macht über deinen Körper.«
    »Beinahe«, sagte er.
    Sie führte ihn ins Kaminzimmer, wo kein Branko am Fenster stand. Branko war weit fort. Er schlief irgendwo im Rinnstein in dieser Nacht, in der Kälte, Branko mit dem eingebildeten Blut an seinen großen Händen. Jari suchte in sich nach Mitleid. Und fand keines. Er war froh, das Feuer im Kamin an diesem Abend für sich zu haben.
    Sie spielten jetzt, sie spielten auf ihren Instrumenten für ihn. Nur für ihn. Die Spiegel im Raum blinzelten ihm die Bilder zu: Jaschas gespreizte Beine, zwischen denen das Cello lehnte. Joanas Lippen am Mundstück der Oboe, neben ihm auf dem Sofa. Jolandas Finger auf den Saiten der Harfe, dort, irgendwo im Schatten. Und plötzlich waren sie nackt. Jolandas schlanker, blasser Körper bog sich um die Harfe, deren Holz zwischen ihren Brüsten lag … Joana lehnte mit dem bloßen Rücken an der rauen Wand neben dem Kamin … Jaschas Schenkel pressten sich an das Holz des Cellos, nur bekleidet mit den Tönen, die sie dem Instrument entlockte. Jari schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, trugen die Mädchen die schwarzen Kleider wie zuvor. Er schloss die Augen abermals, öffnete sie – die drei Körper im Raum waren wieder nackt. Er schüttelte den Kopf, verwirrt. Er konnte sie mit einem Blinzeln an- und ausziehen; es war zu verrückt.
    Zögernd legte er eine Hand auf Joanas bloße Schulter. Da war Stoff unter seinen Fingern. Natürlich. All dies war nur ein Trugbild. Er hatte zu früh geglaubt, das Gift besiegt zu haben – er sah noch immer mit den Augen der Fliegenpilze, deren Wirkung in Wellen über ihn zu kommen schien. Als Nächstes kippten die Farben ins Negativ: weiße Kleider. Schwarze Haut. Helle Augen. Schneehaar … Er versuchte, vom Sofa aufzustehen, taumelte und fiel.
    Eine sanfte Hand streichelte sein Haar.
    »Der Arme«, flüsterte eines der Mädchen. »Hat Gift gefressen, das er selbst ausgestreut hat. Besser, du gehst ins Bett.«
    Sie half ihm sanft auf die Beine. Der Raum war leer. Die anderen hatten ihn bereits verlassen, der weiße Stoff der Schiebetür zitterte leicht. Auf der Treppe huschte der Fuchs an ihnen vorüber. Jari ließ sich die Stufen hinaufführen wie ein Lamm, wie Branko.
    »Jascha«, flüsterte er. »Bist du das?«
    »Ich bin es«, antwortete sie. »Mein Zeisig, wärst du in den Zug gestiegen. Komm.«
    Die Treppe hatte unendlich viele Stufen, er war erschöpft, als sie oben ankamen. Sie führte ihn den Flur entlang und öffnete die Tür für ihn.
    »Das Bett wartet auf dich.«
    Ja, dachte er. Ja, ich möchte in mein Bett fallen und die Augen schließen, für eine lange Zeit, und nichts sehen und nichts hören. Aber das Bett hatte sich verändert. Es war breiter geworden, größer. Dutzende von bunt bestickten Kissen lagen darauf. Die Wände des Raumes waren voller Spiegel, die sich im Kerzenschein eines dreiarmigen Leuchters gegenseitig Bilder zuwarfen, unendliche Tunnel und unmögliche Winkel schufen. Oder hatte der Leuchter neun Arme? Neunhundert?
    »Das ist nicht mein Zimmer«, flüsterte Jari.
    »Natürlich nicht«, sagte Joana und zwinkerte einen Funken Spott aus ihrem Auge wie ein Staubkorn.
    »Komm her«, sagte Jolanda und streckte ihre Arme aus. Sie saßen auf dem Bett, zwischen den Kissen, und warteten auf ihn.
    An diesem, dachte er, gerade an diesem von allen Abenden. Nie war er so unvorbereitet gewesen. Und nie so dankbar. Dies war besser, als alleine auf ein Bett zu sinken und die Albträume eines Rausches auszuschlafen. Dies war der beste Trost, die beste Art, die Leiche im Wald zu vergessen. Tronke und die Straße zu vergessen, die Rätsel zu vergessen, die ungelöst blieben.
    Er löste die Knöpfe an Joanas schwarzem Kleid, unter dem der blasse Körper zum Vorschein kam wie das Fleisch eines Tieres, das der Jäger aufbrach. Er löste die Haken an ihrer Unterwäsche, die aus tausend filigranen Spitzen bestand. Es war

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