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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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das Lied der Nachtigall hält sie am Leben.«
    »Das Lied der Nachtigall?«, fragte Jari, doch Jolanda legte einen Finger an seinen Mund und Joana einen auf seine Augen, und er schloss beide gehorsam. Und eine von ihnen zog ihn an sich, und eine von ihnen zog ihn in sich, und er wusste nicht, welche welche war, er wollte die tausend Spiegelbilder nicht mehr sehen.
    Für Momente glaubte er, die leblosen Gliedmaßen der Schneiderpuppen zu spüren, inmitten von künstlichen Körpern zu liegen. Aber natürlich war das Unsinn. Sei doch einfach einen Moment lang nur glücklich, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf . Du bist umgeben von der absoluten Schönheit. Halte sie fest, lass sie nicht los, vergiss deine Zweifel und Fragen. Du bist das Cello, das gestrichen wird, die Oboe an den Lippen der Spielerin, die Harfe unter den blassen Fingern. Du bist die Musik, die lauter und lauter wird, rascher und rascher … Er hörte Joana etwas in sein Ohr flüstern, das Wort »Wölfe« war das Einzige, was er verstand in dem Strudel, der ihn jetzt mitriss. Lauter und lauter, dachte er, rascher und rascher … und dann barsten alle Instrumente. Die Musik zerbrach, und ein Körper, der ihn gefangen gehalten hatte, gab ihn frei.
    Er öffnete die Augen.
    Da sah er Jascha.
    Sie saß auf dem Fensterbrett, nackt, im Schneidersitz, die Hände im Schoß, und blickte ihn an. War sie nicht dabei gewesen? Bei nichts? Er wollte sich umsehen nach den anderen beiden, die sich noch auf dem Bett befinden mussten, hinter ihm, doch da fiel er zurück in die Dunkelheit einer betäubenden Erschöpfung, fiel in eine große, alles verschlingende Leere.

Schneeblau
    Er erwachte in seinem Bett. Es war kalt im Zimmer, noch kälter als am Morgen zuvor. Das Fenster stand offen. Jari schloss es zitternd und kroch zurück unter die Decken. Dann versuchte er, sich zu erinnern. Was war geschehen? War etwas geschehen? Oder hatte er geträumt?
    Die Mädchen, das wusste er, würden es ihm nicht sagen.
    Die Pilze. Verdammt, die Pilze. Wie benahm sich einer, der so weit war, dass er Negativfarben sah? Dass er die schönsten Mädchen der Welt nicht mehr von Schneiderpuppen unterscheiden konnte? Wie ein Idiot vermutlich. Cizek, der Idiot. Er war noch immer derselbe. Kein stolzer Wolfsjäger, Hasenhenker, Waldkönig. Lächerlich. Wenn er sich jetzt Cizek, den Idioten, nackt auf dem Bett dort unten vorstellte, überfordert von zu viel Gift in seinen Adern und zu vielen Eindrücken, dann wollte er im Fußboden versinken vor Scham.
    Dennoch, falls all dies stattgefunden hatte … dann war es schön gewesen.
    Er stellte sich unter eine eiskalte Dusche und verbiss sich einen Schrei, als das Wasser auf ihn hinabprasselte. Dann zog er sich an, öffnete die Tür zum Flur und lauschte. Unten hörte er die Stimmen der Mädchen. Sie lachten. Sie saßen dort in der Küche beim Frühstück, aber er hatte nicht den Mut, zu ihnen zu gehen. Er stieg die Stufen hinauf statt hinunter. Er würde die toten Füchse besuchen, vielleicht wussten sie einen Rat.
    Doch er irrte sich in der Tür, einmal mehr.
    So kam es, dass er an diesem Morgen die Nachtigallen fand.
    Gott. Warum dieser Wald? Was versprachen sie sich davon? Hatten sie die Städte einfach satt, die Parkplätze, die leeren Baugrundstücke, die Autobahnauffahrten, all jene stummen Zeugen ihrer geplatzten Verhandlungen? Drehten sie durch? Vielleicht war es Zeit, durchzudrehen. Zwei Jahre.
    Er sah die Fotos noch vor sich, die Fotos von den Mädchen auf dem Bett, nackt, schutzlos, ausgeliefert. Nachtigallen ohne Federkleid, frierend in der Winterkälte. Er hatte die Fotos zerrissen.
    Er trug den Vertrag im alten Diplomatenkoffer. Er war kein Diplomat mehr. Seit zwei Jahren nicht mehr. Er würde nie wieder einer sein, nie wieder bei den Spielen der Großen und Mächtigen mitspielen. Es kümmerte ihn nicht. Er wollte nur dieses eine Spiel zu Ende bringen. Die Nachtigallen befreien. Was danach kam, war unwichtig.
    Der Wald war ein Labyrinth ohne Wände. Irgendwo hinter ihm, das wusste er, befanden sich die Leute von der Sondereinsatztruppe. Sie kannten den Wald genauso wenig wie er. Gerade als er sicher war, nicht mehr auf dem beschriebenen Weg zu sein, sich vollkommen verirrt zu haben, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er fuhr herum und sah in das Gesicht des Mannes, den er bereits kannte. Er schrie auf vor Schreck, lauter als notwendig, und der Mann legte einen Finger an den Mund. Der Schrei gehörte zu dem, was er mit der

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