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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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merkwürdig, jedes Mal, wenn er aufsah, trugen auch Jascha und Jolanda ein Kleidungsstück weniger, hatten sich an ihrer Kleidung die gleichen Haken und Ösen gelöst, glitten die gleichen Stoffe an ihnen hinab. Er zog nur eines der Mädchen aus und zog sie alle aus. Und im Spiegel zogen sich hundert andere Mädchen aus, bis in die Unendlichkeit hinein, wo sie im Dunst der Ferne verschwammen.
    Es kam der Punkt, an dem es keine Kleidung mehr gab auf dem Bett, nur eine unüberschaubare Anzahl von Gliedmaßen, die den Weg ineinander, umeinander und zueinander fanden. Das Stück, das die Mädchen im Kaminzimmer gespielt hatten, klang noch in Jaris Kopf. Er dachte an das Ballett zurück, das er durchs Schlüsselloch beobachtet hatte. Jetzt war er Teil des Balletts. Die Hände der Tänzerinnen wanderten an seinem Körper entlang, strichen über Muskeln und Haut, fanden verschlungene Wege, liebkosten und streichelten, und seine eigenen Hände waren sich kaum bewusst, in welche Tiefen sie sich verirrten und wo welcher Körper eigentlich endete. Da war schwarzes Haar an seiner Wange, in seinem Schoß, Finger, die sich in seinen Rücken krallten; er war sich nicht sicher, welche es war, aber er befand sich jetzt in einer von ihnen, war eins mit ihr, er befand sich, außerdem und zusammen mit ihr, an der Zimmerdecke.
    Die Schwerkraft hielt ihn oben statt unten, die Decke war ein Boden geworden, der Wald vor dem Fenster wuchs umgekehrt – er war zurück auf dem Bett, der Körper, der ihn gehalten und umgeben hatte, ließ ihn frei, und ein anderer übernahm. Manchmal hatte er das Gefühl, die drei wären nur eine einzige Person, und manchmal dachte er, sie wären ein Dutzend.
    Am Fenster stand jetzt eine Gestalt, unbeteiligt, eine reine Beobachterin. Die Beobachterin hatte keine Augen. In diesem Moment ging die Tür zum Nachbarzimmer auf – die Tür? Es gab Türen, die die Zimmer untereinander verbanden? –, und eine Gruppe weiterer augenloser Beobachter quoll durch den Spalt. Die Schneiderpuppen. Sie tanzten leichtfüßig herein, sich drehend, wiegend, wippend. Die Musik änderte sich, passte sich an, und er dachte an ein Ballett, das er vor langer Zeit gesehen hatte, im Theater, mit seiner Mutter. Er war noch ein Kind gewesen, es hatte geschneit draußen, es musste kurz vor Weihnachten gewesen sein …
    »Das Ballett der Schneiderpuppen«, flüsterte er.
    »Ja«, flüsterte Jolanda. »Sind sie nicht schön?«
    Da waren große und kleine Puppen, Kinderpuppen und erwachsene Puppen, ihr Strom wollte nicht enden. Vielleicht lag es an den Spiegeln, mehr und mehr drängten herein und reihten sich an der Wand vor dem Fenster auf. Jari stieg vom Bett, streckte eine Hand aus und berührte das Gesicht einer Puppe. Da öffnete sie die Augen. Sie besaß doch Augen. Sie besaß ein Gesicht. Er ließ seine Hand an ihrem Stofftorso hinabgleiten. Sie besaß jetzt Rippen, Brüste – sie atmete.
    Er erweckte eine Schneiderpuppe nach der anderen, bis der Raum voll von Frauen in den schönsten Kleidern der Welt war, voll von dunklen, beobachtenden Augen. Dann drehte er sich zum Bett um. Seht, was ich getan habe, wollte er sagen. Doch Jascha, Jolanda und Joana waren nicht mehr dort.
    »Wir sind hier«, sagte eine der Schneiderpuppen.
    »Und hier«, sagte eine andere.
    »Oder hier?«, fragte eine dritte.
    »Ich bin Jascha«, sagte eine erwachsene Puppe.
    »Ich war Jolanda«, sagte eine jüngere.
    »Ich war Joana«, sagte eine dritte, kindliche.
    Dann sah er einen nackten Arm zwischen den Puppen, packte ihn und zog.
    »Gefunden«, sagte das Mädchen, entwand sich seinem Griff und küsste ihn. »Jolanda hast du. Ein Punkt für den Jäger.«
    Er hörte ein spöttisches Lachen, griff blitzschnell zu und bekam eine Schulter zu fassen.
    »Zwei Punkte für den Jäger. Er hat auch Joana entdeckt!«, flüsterte Joana.
    Aber solange Jari auch zwischen den Puppen suchte, sooft er auch nach etwas griff, das er für einen nackten Arm hielt, Jascha fand er nicht. Die Musik schwoll wieder an, die Schneiderpuppen nahmen ihr Ballett auf, wippten und tanzten in Pirouetten durch die Seitentür hinaus. Die letzten von ihnen besaßen schon keine Augen und Münder mehr.
    Jari blieb verwirrt und schwer atmend auf dem Bett sitzen.
    »Komm, mein Jäger«, flüsterte Joana und ließ den ewigen Spott von ihren Augen in ihre Hände rieseln, die er wieder auf seiner Haut spürte. »Lass dich nicht beirren.«
    »Sie sind nichts als Täuschung«, wisperte Jolanda. »Nur

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