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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Jolandas Ohr. Auf Joanas Arm. Narben von Schusswunden.
    Er hörte jetzt wieder etwas, doch das half nichts.
    »Ich … muss jetzt los«, sagte Jari und stand auf. »Ich habe die Zeit ganz vergessen …« Und das war wahr. Dieses Wochenende war der erste Advent.
    »Warte!«, rief der Mann. »Was …?«
    Jari antwortete nicht. Er kletterte den steilen Pfad hinauf, aus dem Kessel des dunklen Auges, so rasch er konnte, und rannte. Er rannte so lange, bis er nicht mehr rennen konnte. Dann ließ er sich auf einen umgestürzten Baumstamm fallen, stützte den Kopf in die Hände und versuchte zu denken.
    Das Haus im Wald, das Spiegelhaus der Schönheit, voller Kerzen und frischer Zweige … War es nichts als ein Grab? Ging nur der Wind dort ein und aus? Wessen Kartoffelacker hatte Jari gepflügt, wessen Äpfel geerntet? Und mit wem hatte Jari in der letzten Nacht geschlafen? Waren es drei Geister gewesen, die ihn auf das breite Bett gezogen hatten, zwischen die bestickten Kissen?
    Es erklärte natürlich vieles. Die Zahmheit des Fuchses. Des Hirsches. Die Absolutheit ihrer Schönheit.
    »Kein Ton soll klingen mehr«, flüsterte er, »kein Ton …«
    Er sprang auf, um endlich weiterzugehen. Doch bei jedem Rascheln fuhr er herum und glaubte für Sekunden, in den Schatten ein dunkeläugiges, blassgesichtiges Mädchen stehen zu sehen. Sie konnten überall auftauchen, die drei, jederzeit – wer nicht wirklich war, brauchte sich nicht an physikalische Gesetze zu halten.
    »Was habe ich getan«, flüsterte Jari, »all diese Wochen lang? Wo war ich? Wo bin ich? Und … wer?«
    Ja, wer war er? Ein verwirrter Tischlergeselle? Ein Liebhaber? Der dritte Jäger? Ein Wanderer, der seit Wochen im Kreis ging, gefangen im grünen, ornamentalen Käfig einer Geschichte, die er vielleicht nie begreifen würde?
    Er wusste nicht mehr, wo er war, als er das nächste Mal stehen blieb. Er hatte geglaubt, er würde sich nie wieder verirren, aber er hatte sich verirrt. Er fror jetzt. Es war verdammt kalt geworden. Die fellgefütterte Lederjacke half nichts – Moment. Wenn nichts existierte, woher stammte dann die Jacke? Woher das Gewehr über seiner Schulter? Hatte er sie in einem leeren Haus gefunden?
    »Und wenn«, flüsterte er, »wenn der Mann mit dem Hund sich irrt?« An dieser Stelle kam ihm ein neuer Gedanke, er stand klar und scharf in die kalte Luft geschrieben. »Und wenn er gelogen hat? Wenn jemand ihn geschickt hat, damit er das tut?«
    Aber wer? Tronke? Die Mädchen selbst? Da war nur noch eine andere Person in der Geschichte, dachte Jari. Branko. War Branko nicht so dumm, wie er schien? Hatte am Ende Branko auch die Briefe geschrieben? War die Geschichte des Wanderers nur eine neue Art, Jari loszuwerden?
    Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er musste zurückgehen. Nachsehen, ob er die Mädchen noch fand im Haus mit den Efeuwänden. Und ihnen endlich die richtigen Fragen stellen.
    Aber er hatte die Richtung verloren.
    Die Nacht lag schwarz auf dem Nebelwald, es gab keine Sterne, keinen Mond, Wolken hatten alles Licht über den kahlen Baumkronen geschluckt.
    Die Nacht lag schwarz auf dem Nebelwald, die Nacht, durch die der dritte Jäger ging.
    Irgendwo in dieser Nacht schlichen die Wölfe umher. In einem Dorf schlief hinter verschlossenen Türen eine kleine Galerie voller nichtssagender Bilder, denn die Bilder, auf denen etwas geschehen war, waren längst verkauft. Das Fremdenverkehrsamt hatte die Wanderkarten hereingeholt. Die Lichter der Weihnachtsdekoration über der Bahnhofstraße flackerten noch einmal träge, dann erloschen sie alle, die Sterne, die Engel, die Weihnachtsbäume, und die Straße lag wieder im Dunkeln.
    Die Nacht lag schwarz auf dem Land.
    Jari hob das Gesicht, um die Sterne zu suchen, und da berührte die erste Flocke sacht seine Wange. Er spürte die nächste auf seiner Stirn, spürte mehr und mehr von ihnen, ohne sie in der Dunkelheit zu sehen. Der Winter war da.
    Er öffnete den Mund und wollte Namen rufen: Joana! Jolanda! Jascha! Doch seine Stimme gehorchte ihm nicht, alles, was er hervorbekam, war ein Husten. Es klang so dumm, dass er lachen wollte. Aber seine Stimme weigerte sich auch, zu lachen.
    Aus irgendeinem Grund dachte er an Matti. Er dachte daran, dass Matti in seiner winzigen Wohnung eine Mikrowelle hatte, und daran, wie sie einmal versucht hatten, eine gefrorene Bierflasche darin aufzutauen. Die Flasche war explodiert.
    Und dann hörte er das Lied der Nachtigall.
    Er machte einen

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