Solange die Nachtigall singt
brauchte.« Er klopfte auf seine Tasche. »Mit einem GPS braucht man ja gar nichts mehr.«
»Funktionieren die Dinger auch bei Nebel?«, fragte Jari vorsichtig.
»Gute Frage. Wahrscheinlich ist der Satellitenempfang dann nicht der beste. Warum?«
»Nur so. Es ist oft neblig hier oben. Und es gibt wirklich … eine Menge Geschichten im Dorf.«
»Eine Menge? Ich kenne eigentlich nur die eine«, sagte der Mann. »Die damals in allen Zeitungen war.« Er zerriss eines der Wurstbrote und warf dem Hund die Hälfte zu. »Wann war das mit den Mädchen? Vor zehn Jahren?«
Jari sah ihn an. »Den Mädchen …«, wiederholte er langsam. »Hatten sie zufällig schwarzes Haar?«
»Keine Ahnung, kann sein. Willst du sagen, du kennst die Geschichte nicht, obwohl du aus dem Dorf kommst?«
»Ich … bin erst vor Kurzem hergezogen«, sagte Jari rasch.
»Ach so? Na, wenn ich dir die Geschichte erzähle, dann willst du vielleicht nicht mehr hierherkommen, zum Nachdenken.«
Jari sah, wie sehr der Mann darauf brannte, die Geschichte loszuwerden. Und er fragte sich, ob Jascha oder Joana oder Jolanda irgendwo in der Nähe waren, gut verborgen, und lauschten.
»Also?«
»Sie waren, glaube ich, sieben oder acht«, begann der Mann und sah in den blauen Himmel über dem dunklen Auge. »Drillinge. Töchter eines Diplomaten. Irgendwo … ich habe das Land vergessen. Eines dieser kleinen Länder, die ständig im Krieg mit sich selbst liegen. Seine Töchter waren in Deutschland. Und dann wurden sie entführt, von irgend so einer Sympathisantengruppe irgendwelcher Kämpfer auf irgendeiner Seite irgendeines Bürgerkriegs. Zwei Jahre haben sie die Mädchen versteckt gehalten. Ich weiß nicht mehr, was sie gefordert haben. Geld? Es gab ein paar Treffen mit den Entführern. Aber die waren wohl nicht so dumm. Na, sie waren auch nicht schlau genug, um zu kriegen, was sie wollten. Also haben sie die Mädchen behalten. Einmal tauchte ein abgeschnittener Finger von einer auf, das weiß ich noch, stand in allen Zeitungen. Am Ende ist die Sache aus dem Ruder gelaufen. Keiner weiß, wie sie darauf kamen, sich hier im Wald mit dem Vater des Mädchens zu treffen. War jedenfalls ’ne Menge Polizei hier. Die Entführer haben das gemerkt, der Vater hat versucht, sich die Mädchen zu schnappen, glaube ich, und es gab eine Schießerei. Er ist umgekommen dabei.« Der Mann nickte und klopfte Asche von seiner Zigarette.
Joanas Hand beim Oboespielen, dachte Jari. Der Handschuh. Ein Finger fehlte also. Die anderen trugen den Handschuh manchmal, um ihn zu verwirren – nur aus diesem einen Grund. Aber Joana trug ihn immer. Unser Vater ist gestorben. Vor zehn Jahren. Alles ergab Sinn.
»Und was ist mit den Mädchen passiert?«
»Die Männer haben Panik bekommen, haben sie tiefer in den Wald geschafft. Ist alles irgendwie schiefgegangen. Die Polizei hat ihre Spur verloren. Sie haben den Wald durchkämmt, vergeblich. Ich glaube, es war auch ein Problem für die Polizei, wegen der Grenze.« Er streichelte den Hund, der sich neben ihn gelegt hatte. »Irgendein Verrückter aus dem Dorf hat sie am Ende gefunden.«
»Gefunden? Wen?«
»Die Mädchen. Und ich glaube, den einen Entführer. Ist lange her, so genau weiß ich es nicht mehr … Die Leichen lagen in einer Höhle. Einer der beiden Männer ist wohl völlig durchgedreht da oben. Hat sie erschossen, die Mädchen und seinen Kollegen, und ist abgehauen. Die Leichen lagen in einer Höhle. Und das war das Ende der Sache.« Er nickte, zufrieden mit seiner Erzählung. »Wenn man sich vorstellt …«, sagte er, und er sagte noch mehr darüber, was man sich alles vorstellen konnte.
Aber Jari hörte seine Worte nicht länger. Er hörte gar nichts mehr. Der ganze Wald, die ganze Welt war wie in Watte gepackt, die Geräusche ausgelöscht durch einen Nebel, der aus seinem Innern kam. Er hat sie erschossen. Die Leichen lagen in einer Höhle. Und das war das Ende der Sache. Das Ende.
Aber er, Jari Cizek, war nach dem Ende in diese Geschichte gekommen, wie auch die beiden Jäger vor ihm. Und Gunther Tronke? Was wusste oder was glaubte Gunther Tronke? Gab es ihn überhaupt? Oder hatte Jari nie mit einem Förster gesprochen? Genauso wenig, wie er je mit drei wunderschönen, schwarzhaarigen, dunkeläugigen Mädchen gesprochen hatte? Er konnte nicht mit ihnen gesprochen haben. Tote sprachen nicht.
Und doch hatte er so viel mehr getan, als nur mit ihnen zu sprechen. Er dachte an die Narbe an Jaschas Oberschenkel. Unter
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