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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Mädchen, das war alles, was von ihm blieb.
    Seid tapfer, dachte er. Solange ihr zusammenhaltet, wird euch nichts geschehen. Solange die Nachtigall singt.
    Die Nachtigallen waren überall. Sie füllten den ganzen Raum, sie saßen auf Schränken, auf Tischen, auf Regalen, auf dem Fensterbrett. Die dunklen Augen in ihrem grausilbernen Gefieder schienen Jari anzusehen. Er streckte die Hand nach einem der Vögel aus und strich behutsam mit dem Zeigefinger über sein Federkleid. Die Nachtigall rührte sich nicht. Keine der Nachtigallen rührte sich. Sie waren ausgestopft, wie die Füchse. Sie waren für immer still.
    »Das Kabinett der toten Nachtigallen«, flüsterte Jari.
    Ihre Augen waren tot, sie bestanden aus hartem, kaltem Glas. Die Vögel waren blind wie die Schneiderpuppen.
    »Still, still, meine Nachtigall«, wisperte er. »Still, still …«
    Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er von unten aus dem Haus die Töne des Cellos. Er schlich sich die Treppen hinunter und floh in den Wald.
    Er ging mit raschen Schritten. Er ging bis zum dunklen Auge.
    Vielleicht wäre es gut, hineinzuspringen, dachte er, und eine Runde zu schwimmen, um endgültig einen klaren Kopf zu bekommen. Er kniete am Ufer nieder und streckte eine Hand ins Wasser. Nein. Es war viel zu kalt. Der Wind kräuselte den See, das Wasser schwappte über einen der flachen Felsen am Ufer. Es war klar wie Glas, Jari konnte den überspülten Felsen deutlich sehen.
    Da war etwas in diesen Felsen geritzt, etwas, das Jari bisher nicht aufgefallen war. Ein Muster. Nein. Ein Kreuz. Genau wie das oben an der Felswand. Er hob den Kopf und verglich die beiden Zeichen. Das Kreuz dort oben war filigraner, seine Enden leicht geschwungen, es stammte von einer anderen Hand als dieses da unter Wasser.
    »Hier liegt nicht nur der Wilderer«, sagte Jari leise zu sich selbst. »Hier liegt noch ein zweiter Mensch begraben. Der Wald ist voller Gräber.« Aber die Welt, dachte er, ist schließlich voller Tode. Warum sollte der Wald davon ausgenommen sein?
    »Na?«, sagte jemand hinter ihm, und Jari erschrak so sehr, dass er beinahe gestolpert und in den See gefallen wäre. Es war ein Mann in einer roten Windjacke und hohen Schnürstiefeln, mit einem großen Rucksack auf dem Rücken. Er hatte einen Hund bei sich, und das schien der Grund zu sein, aus dem er zum dunklen Auge hinuntergekommen war; der Hund lief jetzt zum Wasser und trank gierig.
    »Ich … habe Sie hier noch nie gesehen«, sagte Jari. »Was … tun Sie hier?«
    Er dachte an die Landvermesser. Er dachte an die Straße. Er merkte, dass er die Arme verschränkt hatte. Der Mann holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche.
    »Ich gehe spazieren«, sagte er. »Auch eine?«
    Jari schüttelte den Kopf. Der Mann blies Rauch über das dunkle Auge.
    »Und du? Was tust du?«
    »Ich … gehe auch spazieren. Man kann besser denken, wenn man spazieren geht.«
    Der Mann nickte. »Besonders an einem Wochenende wie diesem. Überall Plastikrentiere, Nikoläuse, Glühweinbuden.« Er schnaubte. »Danke, nein. Du scheinst ja auch nicht viel davon zu halten, wenn du alleine hier herumläufst. Ein guter Ort, wirklich, um zu denken.«
    »Nikoläuse, Glühweinbuden?«, wiederholte Jari unsicher.
    »Ja.« Der Mann seufzte. »Verdammte Adventswochenenden. Das ist erst das erste, und dieses Jahr haben wir eine lange Adventszeit … Hast du schon zu Mittag gegessen?«
    »Eigentlich«, murmelte Jari, »habe ich noch nicht einmal gefrühstückt.«
    Der zweite Advent. Die Zeit war ihm wieder abhandengekommen.
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Habe ich in deinem Alter auch ständig vergessen. Leberwurst?« Er reichte ihm ein belegtes Brot.
    Alles an diesem Treffen, alles an diesem Menschen war so selbstverständlich, so … normal, dass Jari beinahe laut lachte. Der Hund. Glühweinbuden. Leberwurst. Sie saßen eine Weile schweigend am Ufer des dunklen Auges und aßen belegte Brote. Und tranken Bier aus Flaschen, die sich ebenfalls im Rucksack gefunden hatten.
    »Bist du aus dem Dorf?«, fragte der Mann schließlich.
    Jari nickte, weil es einfacher war, zu nicken.
    »Die meisten von da kommen nicht gern herauf, was? Wegen dieser Geschichte damals.« Er nickte bedeutsam. »Sagen, der Wald ist nicht geheuer. Ich finde ihn eigentlich schön. Bin das erste Mal hier, ein Tipp aus dem Reiseführer. Wollte heute noch bis zur anderen Seite des Gebirgszugs, drüben soll es mehr Wege geben. Bessere Ausschilderung. Nicht dass ich Schilder

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