Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange es hell ist

Solange es hell ist

Titel: Solange es hell ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
Bruder natürlich sehr gern, aber nur sehr wenig Zeit für ihn übrig. Dann war da noch sein alter Freund Tom Hurley. Tom war mit einer netten, munteren, fröhlichen jungen Frau verheiratet, die sehr tatkräftig und praktisch veranlagt war und vor der Frank insgeheim etwas Angst hatte. Sie sagte ihm munter, er dürfe kein griesgrämiger alter Hagestolz sein, und präsentierte ständig »nette Mädchen«. Frank Oliver stellte fest, dass er nie wusste, was er mit diesen »netten Mädchen« reden sollte; sie bemühten sich eine Zeitlang um ihn und gaben ihn dann als hoffnungslosen Fall auf.
    Und doch war er eigentlich nicht ungesellig. Er hatte ein großes Verlangen nach Gesellschaft und Gleichgesinnten, aber seit er wieder in England lebte, war er sich einer wachsenden Mutlosigkeit bewusstgeworden. Er war zu lange fort gewesen, fand sich nicht mehr zurecht. Er verbrachte lange Tage damit, ziellos herumzuwandern und sich zu fragen, was um alles auf der Welt er als Nächstes mit sich anfangen sollte.
    An so einem Tag ergab es sich, dass er in das Britische Museum schlenderte. Er interessierte sich für Asiatika, und so kam es, dass er auf den einsamen Gott stieß. Dessen Zauber nahm ihn sofort gefangen. Hier war etwas, das ihm irgendwie ähnelte; hier war noch jemand, den es in ein fremdes Land verschlagen hatte. Es wurde ihm zur Gewohnheit, dem Museum häufig einen Besuch abzustatten, nur um die kleine graue Steinfigur auf ihrem unauffälligen Platz droben auf dem Regal zu betrachten.
    »Pech für den kleinen Kerl«, dachte er bei sich. »Hat früher vermutlich große Verehrung genossen, Kotaus und Opfergaben und alles, was dazugehört.«
    Er hatte begonnen, eine Art Besitzanspruch auf seinen kleinen Freund zu erheben – tatsächlich lief es schon fast auf ein Gefühl der Eigentümerschaft hinaus –, sodass er geneigt war, Unmut zu empfinden, als er feststellen musste, dass der kleine Gott eine weitere Eroberung gemacht hatte. Er hatte den einsamen Gott entdeckt; kein anderer, wie er fand, hatte ein Recht, sich hier einzudrängen.
    Aber nach einem kurzen Moment der Ungehaltenheit war er gezwungen, über sich selbst zu lächeln. Denn bei diesem zweiten Verehrer handelte es sich um ein so zierliches Dingelchen, ein so jämmerliches, bemitleidenswertes Geschöpf in einem schäbigen schwarzen Kostüm, das schon bessere Tage gesehen hatte – eine junge Frau, seiner Schätzung nach kaum über Zwanzig, mit blonden Haaren und blauen Augen und einem wehmütigen Zug um den Mund.
    Insbesondere ihr Hütchen appellierte an seine Ritterlichkeit. Sie hatte es offenbar selbst garniert, und es bemühte sich so tapfer, schick zu sein, dass sein Scheitern nur um so mitleiderregender war. Sie war offensichtlich eine Dame, wenn auch eine verarmte, und er kam unverzüglich zu dem Schluss, dass sie eine Gouvernante war und allein auf der Welt.
    Er fand bald heraus, dass sie den Gott jeden Dienstag und Freitag besuchte und dass sie immer um zehn Uhr vormittags kam, sobald das Museum geöffnet hatte. Zunächst empfand er ihre Anwesenheit als unliebsam, doch ganz allmählich begann sie zu einem der Hauptreize seines eintönigen Lebens zu werden. Tatsächlich machte die zweite Verehrerin dem Gegenstand der Verehrung schon bald seine Vorrangstellung bei Oliver streitig. Die Tage, an denen er »die einsame kleine Lady«, wie er sie bei sich nannte, nicht sah, waren leer.
    Vielleicht interessierte sie sich ebenso für ihn, obgleich sie bestrebt war, diese Tatsache durch geflissentliche Gleichgültigkeit zu kaschieren. Doch ganz allmählich begann sich zwischen ihnen ein Gefühl der Verbundenheit zu entwickeln, obgleich sie bislang noch kein gesprochenes Wort gewechselt hatten. Er argumentierte bei sich, dass sie ihn höchstwahrscheinlich nicht einmal bemerkt hatte – was augenblicklich von einem inneren Gefühl Lügen gestraft wurde –, dass sie es als große Ungehörigkeit betrachten würde und dass er zudem keine Ahnung hatte, was er zu ihr sagen sollte.
    Das Schicksal, oder der kleine Gott, war jedoch gnädig und schickte ihm eine Eingebung – oder was er dafür hielt. Mit diebischer Freude über die eigene Findigkeit erwarb er ein Damentaschentuch, ein zartes Tüchlein aus Batist und Spitze, das er sich kaum anzufassen traute, und solchermaßen bewaffnet, folgte er ihr, als sie ging, und sprach sie im Ägyptischen Saal an.
    »Entschuldigen Sie, aber gehört das Ihnen?« Er versuchte, mit ungezwungener Gleichgültigkeit zu sprechen,

Weitere Kostenlose Bücher