Solaris
eine Struktur, die an die von Eiweiß erinnert hätte; nicht immer reagierte er auf Reize, selbst nicht auf die stärksten (so »ignorierte« er zum Beispiel völlig die Katastrophe des Hilfs-Raketenschiffs der zweiten Gieseschen Expedition, das aus einer Höhe von dreihundert Kilometern auf die Planetenoberfläche abstürzte und durch nukleare Explosion seiner Atommeiler das Plasma im Umkreis von anderthalb Meilen zerstörte).
In Wissenschaftlerkreisen begann »Angelegenheit Solaris« allmählich so zu klingen wie »verfahrene Angelegenheit«, insbesondere in den Sphären der wissenschaftlichen Administration des Instituts, wo in den letzten Jahren mehrfach die Forderung laut geworden war, die Zuwendungen für die weitere Forschungsarbeit zu kürzen. Von gänzlicher Auflassung der Station hatte bisher niemand zu sprechen gewagt; das wäre ein allzu klares Eingeständnis der Niederlage gewesen. Im übrigen äußerten manche in privaten Gesprächen, wir brauchten sonst nichts als die Strategie eines möglichst »ehrenvollen« Rückzugs aus der »Affäre Solaris«.
Für viele jedoch, und besonders für die Jüngsten, wurde diese »Affäre« langsam zu einer Art Probierstein für den eigenen Wert: »Im Grund genommen« - sagten sie - »geht es um höheren Einsatz, als um das Ergründen der Solaris-Zivilisation. Um uns selbst wird gespielt, um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis.
Einige Zeit lang war die Ansicht beliebt (und wurde eifrig von der Tagespresse verbreitet), der denkende Ozean, der die ganze Solaris umspült, sei ein gigantisches Gehirn, das Jahrmillionen der Entwicklung vor unserer Zivilisation voraus habe; das sei etwas wie ein »Jogi des Kosmos«, ein Weiser, Gestalt gewordene Allwissenheit, die längst die Nichtigkeit jeglicher Betätigung begriffen habe und deshalb uns gegenüber unbedingtes Schweigen bewahre. Das war einfach unwahr, der lebende Ozean betätigt sich ja - und ob! -, nur eben anderen, nicht den menschlichen Vorstellungen gemäß; also baut er weder Städte noch Brücken, noch Flugkörper, er versucht auch nicht, den Raum zu überwinden oder zu überbrücken (manche Verfechter menschlicher Überlegenheit um jeden Preis faßten das als unschätzbaren Trumpf für uns auf), hingegen befaßt er sich mit tausendfältiger Umformung, mit »ontologischer Autometamorphose«, na, an gelehrten Fachausdrücken ist ja kein Mangel auf den Blättern der solaristischen Werke! Da andererseits einen Menschen, der sich beharrlich in alle nur möglichen Solariana vertieft, der unabweisliche Eindruck befällt, uns böten sich Bruchteile vielleicht genialer intellektueller Konstruktionen dar, planlos und sinnlos vermengt mit den Erzeugnissen
vollkommenster, an Irrsinn grenzender Blödheit - so entstand denn als Antithese zu der Konzeption eines »Ozean-Jogi« der Gedanke an einen »Ozean-Schwachsinnigen«.
Diese Hypothesen gruben eines der ältesten philosophischen Probleme wieder aus und belebten es neu: das des Bewußtseins, der Beziehung zwischen Materie und Geist. Es gehörte nicht wenig Mut dazu, erstmals - wie Duhaart es tat - dem Ozean Bewußtsein zuzusprechen. Dieses Problem, das von den Wissenschaftstheoretikern eiligst für metaphysisch erklärt wurde, gloste im Untergrund bei fast allen Diskussionen und Auseinandersetzungen. Ist Denken ohne Bewußtsein möglich? Aber kann man denn die im Ozean ablaufenden Prozesse als Denken bezeichnen? Ist ein Berg ein sehr großer Stein? Ein Planet - ein ungeheurer Berg? Man kann diese Benennungen gebrauchen, aber die neue Größenordnung bringt neue Gesetzmäßigkeiten und neue Phänomene ins Blickfeld.
Dieses Problem wurde zur Zirkel-Quadratur unserer Zeit. Jeder selbständige Denker suchte der Schatzkammer der Solaristik seinen Beitrag einzuverleiben; Theorien häuften sich, die besagten, uns biete sich das Produkt einer Degeneration dar, einer Rückbildung, die auf die verflossene Phase »intellektueller Hochblüte« des Ozeans gefolgt sei - dann wieder, der Ozean sei in Wahrheit ein Gewebekrebs: im Inneren der Körper einstiger Bewohner des Planeten entstanden, habe er sie sämtlich zerfressen und verschlungen, die Überreste einschmelzend zur Gestalt eines ewig dauernden, sich selbst verjüngenden, über die Zelleneinteilung hinausgewachsenen Mediums.
Im weißen Licht der Leuchtröhren, das irdischem Licht ähnlich war, räumte ich die Geräte und Bücher vom Tisch, die dort gelegen hatten, breitete auf der Kunststoffplatte die Karte der Solaris aus
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