Solaris
das andere. Er war einfach ein pedantischer Systematiker, von der Art derer, unter deren äußerlicher Ruhe sich unermüdlicher, das ganze Leben aufzehrender Arbeitsfanatismus verbirgt. Solang er konnte, bediente sich Giese einfach der Sprache der Beschreibung, und wenn ihm Wörter fehlten, half er sich, indem er neue Wörter schuf, oft unglückliche, den beschriebenen Phänomenen nicht angemessene. Aber letztlich können keinerlei Termini wiedergeben, was auf der Solaris vorgeht. Seine »Bergbaumer«, seine »Längichte«, »Verpilzungen«, »Mimoide«, » Symmetriaden« und »Asymmetriaden «, »Wirbelknöchrigen« und »Schneller« klingen schrecklich künstlich, aber irgendeine Vorstellung von der Solaris geben sie sogar denen, die außer undeutlichen Fotos und höchst unvollkommenen Filmen nichts gesehen haben. Selbstverständlich hat auch dieser gewissenhafte Systematiker durch manche Unvorsichtigkeit gesündigt. Der Mensch stellt immer Hypothesen auf, selbst wenn er auf der Hut ist, selbst wenn er es nicht weiß. Giese meinte, daß die »Längichte« die Grundform seien, und verglich sie mit vielfach vergrößerten und übereinandergetürmten Flutwellen irdischer Meere. Wer im übrigen die Erstausgabe seines Werkes durchgeackert hat, der weiß, daß Giese diese Formen ursprünglich gerade als »Fluten« bezeichnete, von einem Geozentrismus angeregt, über den sich lachen ließe, wäre er nicht so hilflos. Das sind schließlich Formationen, die an Ausmaßen den Grand Canyon des Colorado übertreffen - wenn schon auf der Erde nach Vergleichen gesucht werden soll - und aus einem Stoff gemodelt sind, der an der Oberfläche gallertig-schaumige Konsistenz hat (wobei dieser Schaum zu riesigem, brüchigem Gerank erstarrt, zu riesenmaschigem Spitzenwerk, und sich sogar manchen Forschern als »skelettige Auswüchse« präsentierte), im Inneren jedoch in immer kernigere Substanz übergeht, kernig wie ein gespannter Muskel, aber ein Muskel, der sehr bald, schon in einer Tiefe von etwas mehr als zehn Metern, härter als Stein wird, obwohl er
weiterhin seine Elastizität bewahrt. Zwischen den wie die Kammhaut eines Ungetüms gespannten Wänden, woran sich die »Skelettranken« klammern, erstreckt sich kilometerweit der eigentliche »Längicht«, ein scheinselbständiges Gebilde, etwas wie ein enormer Python, der sich mit ganzen Bergen vollgefressen hat und sie nun schweigend verdaut, wobei er seinen fischhaft zusammengezogenen Körper hin und wieder in langsame, vibrierende Bewegung setzt. Aber nur von oben, von Bord einer fliegenden Maschine aus, erscheint der »Längicht« so. Nähert man sich ihm, bis beide »Kluft-wände« das Flugzeug hunderte Meter hoch überragen, so erweist sich der »Pythonleib« als eine bis an den Horizont ausgedehnte Zone schwindelerregend schneller und dadurch als passiv ruhende, aufgeblähte Walze erscheinender Bewegung. Der erste Eindruck ist der, daß glitschiger, graugrünlicher Brei wirbelt und in Aufstauungen die starken Sonnenstrahlen zurückwirft, aber wenn die Maschine knapp über der Oberfläche selbst schwebt (und die Ränder der »Kluft«, die den »Längicht« in sich birgt, gleichsam zu Gipfeln beiderseits einer Erdfalte werden), dann sieht man, daß die Bewegung weit komplizierter ist. Sie besitzt konzentrische Umläufe, in ihr kreuzen sich dunklere Strömungen, zuweilen wird der äußere »Mantel« zur Spiegelfläche, die Himmel und Wolken widerspiegelt und unter schußartigem Knall von Eruptionen der mit Gas vermischten, halb-flüssigen Innensubstanz durchstoßen wird. Langsam durchschaut man, daß man knapp unter sich das Zentrum des Wirkens jener Kräfte hat, die die seitwärts gebogenen, in den Himmel ragenden Steilhänge aus träge kristallisierender Gallerte aufrechthalten; aber was für das Auge unmittelbar einleuchtend ist, das wird von der Wissenschaft nicht so einfach zur Kenntnis genommen. Wie viele Jahre lang wurde erbittert diskutiert, was nun eigentlich innerhalb der »Längichte« geschehe, die zu Millionen das Unmaß des lebenden Ozeans durchpflügen. Man meinte, das seien irgendwelche Organe des Monstrums, in ihnen vollziehe sich der Stoffwechsel, oder Atmungsprozesse, oder der Transport von Nährstoffen, und nur verstaubte Bibliotheken wissen, was sonst noch alles. Jede Hypothese konnte schließlich mittels tausender mühseliger und oftmals auch gefährlicher Experimente umgestürzt werden. Und das alles betrifft allein die »Längichte«, die eigentlich
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