Solarstation
Windgeschwindigkeiten von zweihundert Stundenkilometern über den Osaki-Startkomplex hinwegdonnerte, dann war es nicht ratsam, ein Shuttle an der Startrampe stehen zu haben, geschweige denn zu versuchen, damit zu starten.
Selbst bei Windstille blieben so viele Möglichkeiten, die eine Startverzögerung verursachen konnten, daß man sich nachgerade wundern mußte, daß überhaupt jemals ein Shuttle von der Erde wegkam. Das reichte vom Auftreten handfester Funktionsstörungen beim Probelauf der Triebwerke über die Entdeckung von Haarrissen in den wichtigen Bauteilen, die routinemäßig mit Ultraschall untersucht wurden, bis hin zu verwaltungstechnischen Banalitäten wie dem verspäteten Eintreffen der zu transportierenden Fracht. Die Lieferanten, die die Raumstation belieferten, erstarrten inzwischen keineswegs mehr vor Ehrfurcht ob der Ehre, daß ihr Milchpulver, ihre Bananen, ihre Handtücher oder ihr Klopapier mit Millionenaufwand an den exklusivsten Arbeitsplatz der Welt transportiert wurden. Da wurde hart verhandelt und gefeilscht, und manchmal stellte es sich heraus, daß ein Einkäufer der NASDA Lieferanten mit etwas zu großzügiger Einstellung ausgewählt hatte, was Liefertermine anbelangte.
Und, alles in allem, es war ja nicht meine Ablösung, auf die wir warten mußten.
Tanaka machte eine entsprechende Durchsage über die Bordsprechanlage.
Währenddessen fiel mein Blick auf den großen Wandbildschirm mit der Weltkarte, auf dem ein großes Fadenkreuz den Punkt auf der Erdoberfläche markierte, den wir im Moment überflogen. Wir waren gerade über Neuseeland. Das hieß, wir mußten vor kurzer Zeit den Funkbereich der japanischen Post passiert haben…
Ich hangelte mich rasch hinüber zu Sakai, der reglos an den Kommunikationsanlagen saß, die Kontrollen im Auge behielt und dabei die Gelassenheit eines schlafenden Ochsenfrosches ausstrahlte. Mit seinem schütteren Haar erinnerte er mich an einen Zen-Mönch bei einer Meditationsübung, und er ließ mit keiner Miene erkennen, ob er meine Annäherung registrierte. Vielleicht meditierte er tatsächlich. Mein hoffnungsvoller Blick erspähte einige Faxe, die neben ihm in einer speziellen Klammer an der Wand hingen.
Private Briefe an die Besatzungsmitglieder der Raumstation wurden per Fax übermittelt. Im Prinzip konnte uns jeder schreiben – die Raumstation hatte sogar eine eigene Postleitzahl –, aber in der Praxis war es eine Sekretärin der NASDA, die alle Briefe öffnete und diejenigen aussortierte, die tatsächlich an Bord übertragen wurden, wenn die NIPPON in den japanischen Funkbereich kam. Alle übrigen Briefe bekamen wir nach der Rückkehr auf die Erde in einem mehr oder weniger handlichen Bündel überreicht. Wir blieben also von Werbesendungen und anderer Alltagspost verschont; nur die Briefe eines von uns zu benennenden Personenkreises – und gegebenenfalls termingebundene Mitteilungen wie Zahlungsbefehle, Mahnungen oder dergleichen – erreichten uns direkt. Eine der zahllosen Unterschriften, die vor jedem Start zur Raumstation zu leisten waren, bestätigte unsere Einwilligung zu dieser teilweisen Aufhebung des Fernmeldegeheimnisses. »Haben Sie Post für mich, Sakai-san?« fragte ich. Jeden Tag fragte ich, und jeden Tag wurde ich enttäuscht.
Auch heute war ein ganz normaler Tag.
»Tut mir leid, Leonard-san«, entgegnete Sakai gleichgültig.
Es gab mir einen Stich. Es gab mir immer einen Stich, und er ging von Tag zu Tag tiefer. Und es machte mir angst.
»Danke«, sagte ich, obwohl mir eher nach Schreien zumute war.
Mein Blick blieb an einem träge glitzernden Tropfen hängen, der am Schaltschrank neben Sakais Kommunikationseinrichtungen hing, ungefähr in Kniehöhe, genau in der Ritze zwischen zwei Schalttafeln. Er sah aus wie Kondenswasser. Kondenswasser? In unserer chronisch zu trockenen Bordluft? Ich löste meinen Clip von der Brust und fing den Tropfen vorsichtig damit auf.
Er hatte eine eher ölige Konsistenz, und als ich daran schnupperte, roch er auch irgendwie… ölig. Er blieb gut an meinem Namensclip haften.
»Was ist hinter diesen Schalttafeln?« fragte ich.
Sakai musterte mich unwillig. »Die Reservesteuerung für die Montageplattform, ein Reservecomputer zur Meßdatenauswertung – lauter Reservegeräte.«
»Kann man sie aufschrauben?«
»Sicher«, erwiderte er trocken. »Wozu wären sonst all die Schrauben da?«
Tanaka mischte sich ein und wollte wissen, was ich gefunden hatte. Ich zeigte ihm den Tropfen auf meinem
Weitere Kostenlose Bücher