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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sönke Neitzel
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regelloser Gewalt während des Zweiten Weltkrieges ist vielfach beschrieben und mit dem Zusammenwirken situativer und intentionaler Faktoren erklärt worden. Insbesondere die Ideologisierung soll – wie schon in den Religions- und Kolonialkriegen – dazu geführt haben, dass Gegner nicht als gleichwertig anerkannt und umstandslos getötet wurden. Während die Perspektive der politischen und militärischen Führung aufgrund der Aktenlage gut dokumentiert ist, stellt sich aber nach wie vor die Frage, welche Haltung der einzelne Soldat zu diesen Fragen einnahm. Was war für ihn ein Kriegsverbrechen, und welche Kriegsregeln waren in seinem Referenzrahmen verankert?
    In den Erzählungen der Soldaten spielt der Begriff »Kriegsverbrechen« keine Rolle, ebensowenig wie die Haager Landkriegsordnung oder die Genfer Konvention. Entscheidender Referenzpunkt war für die Soldaten allein der Kriegsbrauch – also das, was man im Krieg zu tun pflegt: Alle Kriegsparteien führten kurz nach Kriegsausbruch einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg, dem zehntausende Handelsschiffer zum Opfer fielen. Allerdings waren sie nicht die Feinde, die es zu bekämpfen galt. Man half ihnen nicht, weil man sich dadurch selbst in Gefahr brachte oder einem ihr Schicksal gleichgültig war. Es war jedoch anerkannte Regel, Schiffbrüchige nicht gezielt zu töten – und es sind nur wenige Fälle bekannt geworden, wo diese Regel gebrochen wurde. Im Luftkrieg war bis April 1942 deutscherseits der gezielte »Terrorangriff« auf dezidiert zivile Ziele untersagt. Doch bereits zuvor hatte sich, wie wir schon gesehen haben, für die Bomberbesatzungen der Unterschied zwischen militärischen und zivilen »Targets« längst aufgehoben. Alles war zum Ziel geworden – auch wenn dies noch nicht der offiziellen Handlungsanweisung des Luftwaffenführungsstabes entsprach. Man sieht hier, wie die Anwendung der Gewalt selbst die Regeln modifiziert und die Grenzen des Zulässigen sukzessive erweitert. Aber der Krieg wird nicht anomisch: Während zehntausende britische Zivilisten im deutschen Bombenhagel umkamen, hunderte britischer Piloten im MG -Hagel zerfetzt wurden, war es wie gesagt tabu, einen abgesprungenen Piloten am Fallschirm zu »erledigen«. Eine aus ihrem abgeschossenen Panzer ausbootende Besatzung wurde hingegen meist getötet. Zu Luft und zu Lande herrschten unterschiedliche Regeln, die – trotz Verstößen – erstaunlich beständig waren. Da Kriegsrecht und Kriegsbrauch immer in einem Wechselverhältnis miteinander standen, waren die völkerrechtlich verbindlichen Regeln gewiss nicht wirkungslos, weil sie zumindest einen gewissen Referenzpunkt bildeten.
    Am wenigsten galt dies freilich für die Landkriegführung. Wenn Gefangene gemacht, besetzte Gebiete gesichert, Partisanen bekämpft werden, regieren partikulare Rationalitäten – etwa die Bedürfnisse der Truppen nach eigener Sicherheit oder das Befriedigen von materiellen oder sexuellen Bedürfnissen. Auch individuelle Gewaltausübung wird unter diesen Bedingungen möglich und wahrscheinlicher, genauso wie Vergewaltigungen oder individuell motivierte Tötungen. Mit anderen Worten: Der Krieg an sich öffnet einen sozialen Raum, der auf ganz andere Weise gewaltoffen ist als der Frieden; Gewalt wird hier erwartbarer, akzeptabler, normaler als unter Bedingungen des Friedens. Und wie die Bedingungen für den Einsatz instrumenteller Gewalt – also die Eroberung von Räumen, die Beraubung der Besiegten, die Vergewaltigung von Frauen etc. – sich mit der Dynamik des Kriegsgeschehens selbst verändern, so auch die Bedingungen für den Einsatz autotelischer, also selbstgenügsamer, »sinnloser« Gewalt. Die Übergänge zwischen den Gewalttypen sind gewiss fließend, so wie die Grenze zwischen völkerrechtlich legitimer und verbrecherischer Gewalt im Kampfgeschehen äußerst dünn ist. Das, was die Männer in den Abhörprotokollen erzählen, ist in vielen Aspekten gewiss nicht typisch für die Ausübung von Kriegsverbrechen durch die Wehrmacht, sondern typisch für Kriegsverbrechen überhaupt.
    Tötungen, Verletzungen, Vergewaltigungen von Menschen, die als Zivilisten nicht das Geringste mit den Kampfhandlungen zu tun haben, gehören genauso zur Praxis des Krieges wie die Ermordung von Kriegsgefangenen, die völkerrechtswidrige Bombardierung ziviler Ziele oder die gezielte Terrorisierung von Bevölkerungen. Nicht nur die Wehrmacht hat Kriegsgefangene erschossen, das haben zum Beispiel vor allem

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