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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sönke Neitzel
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kleine Zeremonie haben die Letten gemacht. Die Letten haben die ganzen Kleider durchsucht. Der SD -Mann war einsichtig, der hat gesagt: ›Jawohl, das wird verlegt.‹ Das waren alles Juden, die wurden also von Landgemeinden hereingeführt. Letten mit der Armbinde – da wurden die Juden hereingeführt, die wurden dann ausgeplündert, war eine maßlose Erbitterung gegen die Juden in Dünaburg, also hat sich da einfach die Volkswut entladen. [272]
    Kittel erzählt nun, immer den Nachfragen von Felbert folgend, seine Geschichte weiter, die wiederum überraschende Wendungen bereithält. Den Umstand, dass die Tötungen offenbar von Letten durchgeführt werden, während die Deutschen anscheinend das Kommando haben, führt er auf die »Volkswut« zurück, die sich in Dünaburg entladen habe. Dies ist eines der unzähligen Beispiele, die demonstrieren, dass offensichtliche Widersprüche oder auch Widersinnigkeiten für den Verlauf von Gesprächen nicht die Bedeutung haben, die man ihnen gewöhnlich beimisst. [273] Kittel spricht ja von organisierten Tötungen, die der SD veranlasst hat, was mit der im selben Atemzug genannten Entladung der »Volkswut« nichts zu tun haben kann. Aber Widersprüche in Gesprächen kommen in Alltagsgesprächen permanent vor und stören die Sprecher erstaunlich selten. Das hat seinen Grund darin, dass Gespräche nicht nur dafür da sind, Informationen weiterzugeben: Kommunikationen haben stets zwei Funktionen – neben dem berichteten Inhalt geht es immer jeweils um die sozialen Beziehungen der Sprecher untereinander. Klassisch kommunikationstheoretisch würde man sagen: Erzählungen haben neben dem Inhaltsaspekt immer auch einen Beziehungsaspekt. Der ist in der Situation des Erzählens oft weitaus wichtiger als die historische oder logische Stimmigkeit des Berichteten. Häufig verzichten Zuhörer auf Nachfragen und Klärungen, weil sie den Gesprächsfluss nicht stören oder den Erzähler irritieren möchten, oft entgeht ihnen aber auch angesichts der Faszinationselemente der jeweiligen Geschichte, dass das eine oder andere nicht stimmen kann. Felbert ist allerdings ein sehr aufmerksamer Zuhörer:
    FELBERT : Gegen die Juden? [274]
    Nun antwortet bemerkenswerterweise ein anderer Gesprächsteilnehmer, vielleicht, weil ihm der Widerspruch in Kittels Erzählung aufgefallen ist. Er klärt den Sachverhalt zugunsten Kittels Betrachtungsweise auf, und bittet ihn dann, weiterzuerzählen:
    SCHAEFER : Ja, weil die damals 60 000 Esten usw. verschleppt hatten, die Russen. Aber das ist natürlich künstlich geschürt worden. Sagen Sie, welchen Eindruck machten denn diese Leute? Haben Sie mal so einen gesehen, wenn man die so sah vor der Erschießung? Weinten die also?
    KITTEL : Ach, es war furchtbar. Ich habe gerade mal Transporte gesehen, habe aber nicht geahnt, dass das so Leute sind, die da zur Hinrichtung geführt werden.
    SCHAEFER : Ahnen die Leute, was ihnen bevorsteht?
    KITTEL : Die wissen genau, die sind apathisch. Ich habe keine feinen Nerven, aber solche Dinge, da dreht es mir ja auch den Magen um; ich sagte immer: ›Da hört man auf, Mensch zu sein, das gehört nicht mehr zur Kriegführung.‹ Also ich habe mal den Chefchemiker von IG Farben für organische Chemie bei mir gehabt als Adjutant, und der war auch, weil sie nichts Besseres für ihn zu tun hatten, ausgehoben und mal rausgeschickt worden. Jetzt ist der wieder zu Hause, und der kam auch durch Zufall dorthin. Der Mann war wochenlang nicht zu gebrauchen. Der saß immer in der Ecke und hat geheult. Der hat gesagt: ›Wenn man sich vorstellt, dass es überall so ist!‹ Das war ein bedeutender Chemiker und Musiker mit feinstem Nervensystem.
    Jetzt ist es an Felbert, dem Gespräch eine Wendung zu geben:
    FELBERT : Hier liegt der Grund, weshalb Finnland abgefallen ist, Rumänien abgefallen ist, weshalb überall alles uns hasst – nicht wegen dieses Einzelfalls, aber der Masse der Fälle.
    KITTEL : Wenn man alle Juden der Welt gleichzeitig umbringen würde, dann würde kein Ankläger mehr auftreten. [275]
    Kittel, der sich schon im Verlauf seiner Erzählung als Pragmatiker gezeigt hat, den nicht die Judenvernichtung an sich stört, sondern die unzulänglichen Modi ihrer Durchführung, hat nicht ganz erfasst, dass Felbert auf die moralische Dimension hinaus will, und zwar nicht die des »Einzelfalls«, sondern der »Masse der Fälle«:
    FELBERT (sehr erregt, schreiend): Das ist doch ganz klar, das ist doch eine solche Schweinerei, das

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