Soldaten
Erinnerungs- und Erzählforschung belegt ist. [284] Die Geschichten verändern sich, wenn sie weitererzählt werden, Details werden dazuerfunden, handelnde Personen ausgetauscht, Orte verlegt – so, wie es den Bedürfnissen des Weitererzählers entspricht. Diese Modifikationen und Umerfindungen von gehörten Geschichten erfolgen nur selten bewusst – es liegt in der Natur des Zuhörens und Weitergebens, dass sich das Erzählte nach dem jeweiligen Standpunkt und der jeweiligen Gegenwart des Weitererzählers verändern. Deshalb geben Erzählungen prinzipiell nie ein Geschehen abbildend wieder, sondern immer gestaltet. Aber man kann an ihnen ablesen, welche Aspekte den Erzählern und Zuhörern wichtig sind, welche Wissensbestände und welche historischen Fakten oder Unsinnigkeiten in den Geschichten enthalten sind, und schließlich kann man anhand strukturähnlicher Geschichten ermessen, wie sehr und auf welche Weise Geschehnisse wie die Judenverfolgung und -vernichtung Teil des kommunikativen Arsenals der Soldaten gewesen sind. Diese Geschichte belegt, wie empört Bruhn über die Kaltschnäuzigkeit Kittels gewesen ist, der die Mordaktion offenbar guthieß.
In welchem Ausmaß die Judenvernichtung generell die Aufmerksamkeit der Soldaten fand, ist sehr schwer zu sagen. Da man davon ausgehen kann, dass die alliierten Abhöroffiziere daran interessiert waren, etwas über die Vernichtungsaktionen zu erfahren, werden Kommunikationen darüber sicher überproportional häufig aufgezeichnet worden sein. Gemessen daran machen dann die etwa 0,2 Prozent Erzählungen, die sich um die Vernichtungsaktionen drehen, im Gesamtmaterial überraschend wenig aus – und dies, obwohl das Spektrum der Erzählungen den vollen Umfang der Judenverfolgung, Ghettoisierung, Erschießung und Massentötung mit Gas umfasst. Man darf die Schockwelle, die von den Bildern aus Bergen-Belsen oder aus Buchenwald unmittelbar nach Kriegsende ausging und die bis heute nachwirkt, nicht mit der teilnehmenden Kenntnis der Wehrmachtangehörigen von der Vernichtung verwechseln. Ihr Bild setzte sich aus eigener Anschauung, passiver Kenntnisnahme und aus Gerüchten zusammen. Das Vernichtungsprojekt stand nicht im Zentrum
ihrer
Aufgaben, obwohl sie manchmal damit zu tun bekamen, logistisch, kollegial, amtshelfend oder aus freien Stücken. Die »Judenaktionen«, hauptsächlich organisiert durch die Einsatzgruppen, Reserve-Polizeibataillone und örtlichen Hilfstruppen, fanden in den besetzten Gebieten hinter der vorrückenden Front statt. Die kämpfenden Truppen hatten demgemäß weniger mit diesen Massenvernichtungsaktionen zu tun.
Unabhängig davon, ob die Soldaten die Massenmorde richtig, seltsam oder falsch fanden: Sie bildeten keinen zentralen Teil ihrer Welt. Jedenfalls hatte die Vernichtung für die Soldaten keinesfalls die Zentralität in Wahrnehmung und Bewusstsein, wie sie ihr seit etwa dreißig Jahren zunächst in der deutschen, dann auch in der europäischen Erinnerungskultur zugeschrieben wird. Das Wissen, dass die Morde stattfanden, war verbreitet und ließ sich kaum vermeiden – aber was hatte das mit der Kriegsarbeit zu tun, die man selber zu verrichten hatte? Auch unter harmloseren Umständen laufen in Lebenswelten viele Geschehnisse parallel ab, ohne dass man von allen aufmerksam Kenntnis nimmt – das ist eine Eigenschaft komplexer Wirklichkeiten, in denen es jede Menge »Parallelgesellschaften« gibt. Dass die Judenvernichtung nicht das mentale Zentrum der Soldaten und vielleicht nicht einmal das der SS bildete, erschließt sich auch aus einer scheinbar so nebensächlichen Tatsache wie der, dass die Zeit, die Heinrich Himmler in seiner berüchtigten »Posener Rede« auf die Judenvernichtung verwendete, im Bereich einiger Minuten lag. Die gesamte Rede dauerte aber sage und schreibe drei Stunden. Solche Aspekte werden in der Fixierung auf die spektakulären Zitate (»Viele von euch werden wissen, wie es ist, wenn 50 Leichen beisammenliegen ...«) übersehen.
Wir gehen nach Sichtung unseres Materials davon aus, dass das Wissen sowohl um die Tatsache als auch um die Art und Weise der Judenvernichtung unter den Soldaten verbreitet war, sie dieses Wissen aber nicht sonderlich interessierte. Im Vergleich etwa zu den endlosen Diskussionen über Waffen- und Bombentechnik, über Auszeichnungen, versenkte Schiffe und abgeschossene Flugzeuge bleiben die Schilderungen aus dem Kontext des Vernichtungsprozesses insgesamt schmal. Dass er geschieht, so
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