Soldaten
war, dass Einheiten der Wehrmacht eine Vielzahl von Kriegsverbrechen begangen hatten und auch an den systematischen Erschießungen von Juden in den besetzten Gebieten vielfältig beteiligt waren – als Ausführende, als Zuschauer, als Mittäter, als Hilfskräfte, als Kommentatoren. Sehr selten auch als Störfaktoren, etwa in Gestalt einzelner Offiziere, die sich beschwerten, Opfer retteten oder, wie in einer besonders spektakulären Aktion, die SS mit Waffengewalt an der Ermordung einer Gruppe von Juden hinderten. [265] Dies freilich sind solitäre Ausnahmehandlungen gewesen; Wolfram Wette taxiert die Gesamtzahl der Fälle von »Rettungswiderstand« unter den 17 Millionen Wehrmachtangehörigen auf etwa 100 Fälle. [266]
Keine der großen Erschießungsaktionen wie in Babi Jar, wo an zwei Tagen mehr als 30 000 Menschen erschossen wurden, fand ohne Beteiligung der Wehrmacht statt. Und das Wissen über das, was seit der Jahresmitte 1941 in Russland geschah und in Polen schon Vorläufer hatte, war noch einmal mehr verbreitet, über den Kreis der unmittelbaren Täter und Beobachter hinaus. Gerüchtekommunikation ist besonders dann ein schnelles und interessantes Medium, wenn das Berichtete ungeheuerlich, seine Geheimhaltung erwünscht und der Informationsraum beschränkt ist. In den Abhörprotokollen kommen Gespräche über die Massenverbrechen an den Juden nur selten vor, nur in 0,2 Prozent aller Fälle. Doch die absolute Zahl ist hier weniger relevant, da im Referenzrahmen der Soldaten Verbrechen ohnehin keine große Rolle spielten. Gleichwohl wird in den Gesprächen deutlich, dass praktisch alle wussten oder zumindest ahnten, dass die Juden umgebracht wurden. Überraschend für den heutigen Leser ist vor allem, wie über diese Verbrechen gesprochen wird.
FELBERT : Haben Sie auch mal Orte erlebt, in denen die Juden entfernt wurden?
KITTEL : Ja.
FELBERT : Ist das ganz systematisch durchgeführt worden?
KITTEL : Ja.
FELBERT : Frauen, Kinder, alles?
KITTEL : Alles. Entsetzlich.
FELBERT : Werden die dann auf Züge geladen?
KITTEL : Ja, wenn die nur in Züge geladen wären. Ich habe Sachen erlebt! Ich habe dann einen Mann hingeschickt und habe gesagt: ›Ich befehle jetzt, dass da Schluss gemacht wird. Ich kann es nicht mehr mit anhören überhaupt.‹ Also z.B. in Lettland, bei Dünaburg, da sind also Massenerschießungen von Juden gewesen. [267] Das waren SS oder SD . Der SD war mit ungefähr fünfzehn Mann da, und da waren, sagen wir mal, sechzig Letten da, die ja bekanntlich als die rohesten Menschen der Welt gelten. Da liege ich in der Früh am Sonntag im Bett, und da höre ich immer zwei Salven und dann noch hinterher so Kleingewehrfeuer. Ich stehe auf und gehe raus, da sage ich: ›Was ist das für eine Schießerei hier?‹ Der Ordonnanz sagt zur mir: ›Herr Oberst, da müssen Sie hingehen, da werden Sie was sehen.‹ Ich bin da bloß in die Nähe gegangen, das hat mir genügt. Aus Dünaburg wurden dreihundert Mann rausgetrieben, die gruben eine Grube aus, Männer und Frauen gruben ein Massengrab und marschierten dann heim. Am nächsten Tag kamen sie wieder, Männer, Frauen und Kinder, abgezählt, die wurden splitternackt ausgezogen, dann haben die Henker erst mal die ganzen Kleider auf einen Haufen gelegt. Dann mussten sich zwanzig Frauen an den Grubenrand hinstellen, nackend, wurden abgeschossen und fielen hinunter.
FELBERT : Wie wurde das gemacht?
KITTEL : Mit dem Gesicht zur Grube, und da traten zwanzig Letten dahinter an und schossen einmal mit dem Gewehr denen einfach in den Hinterkopf rein. Da hatten sie an den Gruben so eine Stufe, dass die jetzt niedriger standen. Die traten oben an den Rand und schossen denen einfach so durch den Kopf, und dann fielen die vorne runter, in die Grube hinein. Danach zwanzig Männer, die wurden dann genauso mit der Salve umgeknallt. Da hat einer kommandiert, da fielen die zwanzig Leute wie die Scheiben in die Grube. Dann kam das Schrecklichste, da bin ich weggegangen, da habe ich gesagt: ›Ich greife ein.‹ [268]
Generalleutnant Heinrich Kittel, ehemaliger Kommandant von Metz, erzählt dies am 28. Dezember 1944. 1941 war er in seiner Eigenschaft als Oberst in der Führerreserve der Heeresgruppe Nord in Dünaburg, wo zwischen Juli und November etwa 14 000 Juden erschossen wurden. Seine eigene Rolle bei diesen Erschießungen ist historisch nicht aufklärbar; er selbst schildert die Situation aus der Perspektive des empörten Beobachters. Kittels
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