Soldner
Schnur befestigt war. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie hielt den Säugling fest, da sie nicht an der Schnur ziehen wollte. Schließlich fiel ihr ein, das jemand – wer, wusste sie nicht mehr – die Schnur bei ihrer Mutter durchgeschnitten hatte. Da sie kein Messer hatte, nahm sie Tarens Feuerstein. Er hatte aber keine scharfe Kante, und so war sie gezwungen, die Schnur durchzubeißen. Aus dem abgetrennten Ende quoll Blut. Dar geriet kurz in Panik, dann machte sie einen Knoten in die Schnur.
Obwohl das Kind geboren war, war Loral noch nicht fertig. Nach einer weiteren Anstrengung kam ein merkwürdiger Gegenstand aus ihr hervor. Er war mit dem anderen Ende der Schnur verbunden und ähnelte einer rohen Leber. Dar hatte keine Ahnung, was es war. Nach dem Erscheinen des Dings ging es Loral besser. Sie legte sich wieder auf ihr Farnbett. »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte sie.
Dar schaute nach. »Ein Mädchen.«
Loral wirkte enttäuscht, aber sie sagte: »Lass sie mich mal halten.«
Dar nahm den Leinenfetzen, um das Kind abzuputzen,
dann legte sie es in Lorals Arme. Die winzige Kleine schien ihre Mutter anzuschauen. Loral streichelte liebevoll ihr Gesichtchen. Dann brach sie in Tränen aus. »Was wird nun aus mir?«, sagte sie zwischendurch immer wieder. »Was wird nun aus mir?«
Dar war klug genug, sich nicht an eine Antwort zu wagen.
15
DAR TAT IHR BESTES, damit Loral es bequem hatte: Sie säuberte sie, legte ihr den Säugling an die Brust und packte Mutter und Kind in ihren eigenen Umhang. Dann schob sie das restliche Brennholz in die Flammen. Als sie fertig war, legte sie sich – Loral gegenüber – auf die andere Seite des Lagerfeuers. Bald schliefen beide Frauen ein.
Als sich am östlichen Himmel der erste Schein des Morgens zeigte, wurde sie von Lorals Zähneklappern geweckt. »Geht es dir gut?«
»Ich f-friere«, sagte Loral wie benommen.
Dar stand auf. Das Feuer war bis auf die Glut heruntergebrannt. Sie schob die Enden der Äste zusammen und blies sie an. Eine gelbe Flamme zeigte sich. Dann riss Dar einige Heidekrautstrünke aus dem Boden und warf sie ins Feuer. Es flammte auf. »Ist es so besser?«
»Mir ist noch immer kalt. Ich bin ganz nass.«
Im Licht der Flammen wirkten Lorals Lippen schwarz. Dar beugte sich vor und streichelte ihre Stirn. Sie war klamm. »Du hast auf feuchtem Boden gelegen«, sagte sie. »Näher am Feuer ist es trockener.«
Loral sagte nichts. Sie schaute Dar nur an. Sie wirkte durcheinander. Dar nahm die Dinge in die Hand und zog Loral auf trockeneren Boden. Die Stelle, an der sie gelegen hatte, wirkte in dem matten Licht dunkel wie ein beständiger Schatten. Dar berührte den großen dunklen Fleck und zog die Hand zurück. Blut! Loral hatte in einer Pfütze gelegen.
Diese Entdeckung stürzte Dar in Verzweiflung. Sie hat die halbe Nacht geblutet. Angesichts des Blutverlustes konnte sie nur davon ausgehen, dass Loral im Sterben lag. Wusste Loral es auch? Soll ich es ihr sagen? Dar konnte sich nicht überwinden, die Worte auszusprechen. »Loral …«
»Was?« Lorals Stimme klang schwach.
»Ich werde mich um dein Kind kümmern.«
Ein mattes Lächeln legte sich auf Lorals dunkle Lippen. »Danke.«
»Wie willst du sie nennen?«
»Frey.«
»Das ist ein schöner Name.«
Loral sagte etwas, das Dar nicht verstand, dann schloss sie die Augen. Einen Augenblick lang glaubte Dar, sie sei schon tot, aber sie atmete noch. Dar hob den Umhang an und nahm Frey auf den Arm. Die Kleine wachte auf und fing an zu weinen. Dar riss den Halsteil ihres Kleides auf, bis die Kleine hineinpasste und an ihrer Brust ruhen konnte. »Ich stille dich mit leerer Brust und schaue deiner Mutter beim Sterben zu«, murmelte Dar. »Wozu bin ich nütze?«
Das Morgenlicht enthüllte, dass Lorals dunkle Lippen in Wirklichkeit blau waren. Sie hoben sich deutlich von ihrer fast weißen Gesichtsfarbe ab. Ihr Atem war kaum wahrnehmbar. Als die Sonne aufging, hatte sie es ganz und gar aufgegeben.
Mit einem glühenden Stück Holz vernichtete Dar das Zeichen
auf ihrer Stirn, das Loral als Besitz des Königs auswies. Dann nahm sie ihren blutbefleckten Umhang, denn sie benötigte ihn dringend und konnte ihn nicht zurücklassen. Sie bedeckte Lorals verbrannte Stirn mit Heidekrautzweigen und richtete ihren Leichnam so aus, dass er friedvoll und würdig aussah. Mehr konnte sie nicht tun, denn ihr fehlten die Mittel, um ihre Freundin zu bestatten. Es gab hier auch keine
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