Soldner
den Dunklen Pfad. Dar fragte sich, wann sie ihn erreichen würde. Bald, glaube ich. Ich muss nur einatmen. Noch bevor sie es versuchte, verblasste langsam die Welt.
Irgendetwas schlug gegen sie und griff nach ihr. In ihrem verwirrten Zustand hielt sie es für eine Hand. Die Hand kämpfte gegen den Fluss an. Dar bewegte sich nicht mehr. Ihr Körper wurde gegen etwas Hartes und Raues gedrückt. Über
ihrem Kopf war das Grau heller. Dar versuchte sich dem Licht entgegenzubewegen und entdeckte, dass sie gegen die raue Hand drücken konnte. Plötzlich sah sie Blätter. Sie bekam Luft. Sie atmete keuchend ein.
Die Hand war ein in den Fluss gestürzter Baum. Seine Blätter schirmten den sich verdunkelnden Himmel ab, und seine Wurzeln waren noch mit dem Ufer verbunden. Dar hatte sich in seinem Astwerk verheddert. Eine Weile kam sie sich wie in einem Traum vor, doch da der Baum nicht verschwand, wurde aus dem Gefühl Erstaunen. Schließlich kämpfte sie sich aufs Ufer zu.
Als ihre Füße trockenen Boden berührten, war die Nacht hereingebrochen. Und plötzlich vernahm sie ein leises Ächzen: Nun bewegte sich der Baum. Er glitt in die Strömung. Dar trat zurück und schaute zu, wie er forttrieb. Bald war er nur noch ein sich verabschiedender Schatten, der auf dem finsteren Fluss davonwirbelte.
Dar begab sich zu Kovok-mahs Quartier. Als sie Muth’las Umarmung erreichte, kam ihr eine Ork-Patrouille entgegen und hielt sie an. »Dargu?«, sagte ein Posten mit einer Stimme, die Verblüffung verriet. Dar vermutete plötzlich, dass die Orks wussten, was Zna-yat getan hatte.
»Hai.«
»Warst du nicht im Fluss?«, fragte ein anderer Wächter und bestätigte damit ihre Vermutung.
»War ich«, erwiderte Dar auf Orkisch. »Aber ich bin wieder hier.«
»Wie kann das sein?«, fragte der Posten.
»Ein Baum hat mich gerettet.«
Die Orks machten große Augen. Einer drückte seine Handfläche gegen den Brustkorb und spreizte die Finger, sodass sie nach oben zeigten. Dar hatte diese Geste schon einmal gesehen,
kannte allerdings nicht ihre Bedeutung. »Ein Baum?«, sagte er gedämpft.
»Hai«, sagte Dar. Dann marschierte sie mit aller Würde, die sie aufbringen konnte, zu Kovok-mah. Hinter ihr – sie hörte es – unterhielten sich die Orks so leise wie aufgeregt.
Skymere nahm den finsteren Weg mit einem Schritt, der seine Erschöpfung verriet. Der lange Ritt hatte den Hengst an die Grenzen seiner Ausdauer geführt, worüber Sevren wütend war. Trotzdem ritt er still und stoisch vor sich hin. Ein Gardist des Königs beschwerte sich nicht. Jedenfalls kein kluger.
Seine Begleiter waren ebenso schweigsam. Keiner kannte den Grund ihrer Reise. Sie wussten nur, dass der König es so wollte. Man hatte ihnen ihren Marschbefehl nicht erklärt, und er wusste aus Erfahrung, dass sie auch keine Erklärung zu erwarten hatten. Sevren mutmaßte, dass es nur eine Demonstration der Macht war. Der König mochte Großtuerei. Wahrscheinlich wollte er nur in Begleitung seiner sämtlichen Gardisten ins Lager einreiten. Wen wollte er wohl damit beeindrucken?
Als der aufgehende Mond den Horizont versilberte, erspähte Sevren die Feuer des königlichen Lagerplatzes. Hoffentlich bedeutet dies, dass er sich bald um sein Pferd kümmern konnte. Kurz darauf vernahm er ausgelassene, vom Alkohol raue Stimmen. Für manche Menschen ist Krieg ein fröhliches Geschäft. Der Lärm ließ ihn daran denken, wie Dar wohl die grimmigen Seiten einer Schlacht sah. Entbehrungen, keine Reichtümer. Gemetzel, kein Ruhm. Sevren hoffte, dass ihr das Schlimmste erspart blieb. Niemand sollte das sehen, was ich gesehen habe. Im gleichen Moment, in dem ihm dieser Gedanke kam, wurde ihm bewusst, dass er mehr Glück gehabt hatte als viele andere. Es gibt Schlimmeres als den Anblick des Grauens. Viel Schlimmeres.
Er hatte während des langen Rittes nicht zum ersten Mal an Dar gedacht. Nach ihrem gemeinsamen Spaziergang war seine anfängliche Neugier zu etwas anderem geworden. Er empfand tiefere Gefühle. Er hatte eines großen Teil des Tages damit verbracht, darüber nachzudenken, warum Dar ihn anzog, obwohl sie gar nicht wild auf seine Gesellschaft war. Sie hatte besondere Eigenarten. »Schneid« beschrieb sie nur ungenau. Sie ist in Lumpen gekleidet, und doch spürt man in ihrer Gegenwart eine Größe, der kein Herr und keine Dame gleichkommt. Sevren sah diese Größe in Dars Umgang mit Skymere, in ihrer Beschützerrolle gegenüber Twea und ihrer Furchtlosigkeit vor den Orks,
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