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Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)

Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)

Titel: Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Faras
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eine Regulationsstörung der Neurohemmer. Andererseits erkannte Isaak so etwas wie Angst davor, nicht zu wissen, ob sie mit der Ungewissheit, die vor ihr lag, umgehen konnte. Die Ungewissheit liegt vor uns beiden, erinnerte sich Isaak. Ihn betraf das Gefühl ganz genauso, und Ninives Blick verriet ihm, dass sie ihm das ansah.
    „Es ist nicht mehr weit“, teilte er ihr tonlos mit und zwängte sich durch den aufgeschnittenen Maschendrahtzaun, der die nächste Parzelle des Containerhafens abgrenzte. Er sah sich nur kurz zu ihr um, widerstand dem Drang das Loch im Zaun für sie offen zu halten. Er wollte nichts tun, das ihr das Gefühl geben könnte, er würde sie anders behandeln als jedes andere Mitglied seines Teams. Hätte er Seamus durch den Zaun geholfen? Ja, gestand er sich ein, natürlich hätte er das. Aber das war etwas anderes. Seamus hätte nicht den Verdacht gehabt, er würde das für ihn tun, weil er ihn für die Inkarnation seiner verstorbenen Freundin hielt.
    Isaak dachte an Nina. Das hatte er sehr wenig getan in den letzten Wochen. Sie war seine große Liebe, damals, in der alten Zeit. Er hatte sich geschworen, sie nie zu vergessen. Doch auch die größte Liebe muss irgendwann zu Ende gehen, oder nicht? Er hatte sie nicht vergessen, doch immer wenn sie in letzter Zeit Teil seines Denkens war, waren es sachliche, berechnende Gedanken. Er musste sich eingestehen, dass Nina zu einer Erinnerung geworden war. Nicht mehr, nicht weniger.
    Erneut sah er Ninive an. Sie war nicht Nina, auch wenn es Parallelen gab. Aber sie war es nicht. Nina war einen Kopf kleiner als er gewesen, doch sie hatte sich nie bei ihm angelehnt, nie seinen Schutz gesucht. Sie hatte das nicht nötig. Selbst als sie die einzige war, die seinen Visionen des Sangre glaubte, war sie so frei von Angst und Zweifeln, dass es schon eine gigantische Flut brauchte, um sie zu bezwingen. Es war meistens Isaak, der sich bei Nina anlehnen musste und bei ihr Schutz und Zuflucht suchte. Ninive hingegen hatte die Statur einer Soldatin, die körperlichen Fähigkeiten ebenso unbestreitbar. Sie war genauso groß wie er und nicht weniger durchsetzungsfähig. Und dennoch wirkte sie in diesem Moment verunsichert, verletzlich und alleine. Isaak widerstand dem Impuls, sie in den Arm zu nehmen.
    „Siehst du das halb zerfallene Haus dort vorne?“, er deutete zwischen einigen umgestürzten Containern hindurch. „Das ist das Clubhaus, das zu dem Yachthafen gehörte.“
    „Vor einhundert Jahren“, entgegnete Ninive. „Und immer noch steht das Haus, und der Zaun ... wie in deiner Erzählung.“
    „Der Zaun ist aber wieder aufgebaut worden“, sagte Isaak. „Und die Hütte des Parkplatzwärters auch. Die waren beide stark zerstört nach der Flut.“
    „Wer baut Zaun und Hütte wieder auf, wenn alles ringsherum in Jahrzehnte alten Trümmern liegt?“, sprach Ninive das aus, was auch Isaak in diesem Moment durch den Kopf gegangen war.
    „Ich weiß es nicht.“
    Isaak ging weiter auf den offenen Platz zu, bis er die Ecke des letzten Containers erreichte. Noch im Windschatten der metallenen Containerwand lag der offene Platz nun vor ihm. Er spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften, als er zu der Stelle vor dem ehemaligen Clubgebäude sah, an der er Nina gesehen hatte, kurz bevor die Welle sie erreichte. Er schloss die Augen und versuchte, die Szene so zu sehen, wie sie sich damals ereignet hatte. Unzählige Male hatte er sie vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lassen, sich die Details gemerkt, wie das ohrenbetäubende Rauschen des Wassers klang, das bedrohliche Knirschen von metallenen Containern auf Asphalt, als eine Lawine aus Wasser und Blech die fernen Zäune eindrückte. Doch jetzt, da er zum ersten Mal an diesen Ort zurückgekehrt war, gelang es ihm nicht. Die Szene manifestierte sich nicht, und auch die Welle aus Trauer und Selbstmitleid, die sonst über ihm zusammenschlug und ihm Schauer über den Rücken jagte, stellte sich nicht ein.
    „Ich fühl es nicht mehr“, sagte er mehr zu sich selbst.
    „Den Moment, als sie starb?“, fragte Ninive vorsichtig, die dicht hinter ihm stand um nicht in die Windfront zu geraten. Isaak drehte sich zu ihr um, und ihre Blicke begegneten sich für einige Sekunden, bis Ninive ihren schließlich senkte.
    „Genau diesen Moment. Ich fühle ihn nicht mehr. Eigentlich fühle ich bereits seit einer Weile die ganze Geschichte nicht mehr.“
    „Das tut mir leid für dich“, sagte Ninive und sah wieder auf. Ihre Stimme

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