Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
aber ihre Aufmerksamkeit galt auch vielmehr dem Mann, der auf der anderen Seite des Raumes stand, den Rücken zur großen Verandatür. Bertrand Gallea war hochgewachsen und hager. Einst war er vermutlich ein attraktiver Mann gewesen, und auch sein Alter – er musste schließlich ungefähr so alt wie Doignac sein – hätte man ihm nicht angesehen, wären nicht die gebeugte Haltung, die eingefallenen Wangen und das frühzeitig ergraute Haar Anzeichen eines Mannes gewesen, dessen aufrechtes Wesen in der Vergangenheit Tief- und Schicksalsschläge hatte hinnehmen müssen.
„Du bist Sequana, richtig?“, begrüßte er sie mit einer Stimme, die so brüchig war, dass Sequana den Drang verspürte, sich selbst zu räuspern.
„Du musst Bertrand sein“, entgegnete sie. „Ich bin alleine, deine Vorhut hatte in Professor Doignacs Appartement einen kleinen Unfall.“
„Bedauerlich“, murmelte Gallea, „ist sie tot?“
„Nein, aber sie wird es schwer haben, wenn die Sec-Teams kommen.“
„Damit weiß sie umzugehen“, Gallea lächelte sanft. „Ich will mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, aber ich musste dich sehen. Du bist meine einzige Spur.“
„Damit hätten wir etwas gemeinsam“, entgegnete sie. „Woher weißt du von mir?“
„Cedric hat dich letzte Nacht erwähnt. Er hat mir nur eine etwas unklare Nachricht hinterlassen. Und dann erfuhr ich heute Morgen, dass er festgenommen werden sollte.“
„Sollte? Soll das heißen ...?“
„Offizielle Informationen konnte ich nicht bekommen“, Gallea zuckte mit den Schultern, „aber wenn ich die Gespräche unter Kollegen richtig deute, dann scheinen die Sec-Teams ihn nicht erwischt zu haben. Aber ich weiß nicht wo er ist. Er hätte sich bei mir gemeldet, wenn er gekonnt hätte. Er muss in Schwierigkeiten stecken. Du musst wissen, Cedric ist ein guter Freund von mir seit wir zusammen am Institut für Sangre-Forschung studiert haben. Und in meiner Branche gibt es leider nur wenige gute Menschen. Ich bin mir sicher, er kann meine Hilfe gebrauchen, doch ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, deshalb hörte ich auf seinen Rat und habe dich gesucht.“
Sequana dachte nach. Doignac schien nicht besonders daran gelegen gewesen zu sein, irgendjemanden umfassend in Kenntnis zu setzen. Sie selbst hatte mehr erfahren, als sie erwartet hatte, doch wenig davon schien mit der augenblicklichen Lage des Professors zu tun zu haben. Und Gallea? Offensichtlich war er ein guter Freund Doignacs, doch auch er hatte nur kryptische Informationen erhalten. Sicher, der Professor schien unter Zeitdruck gestanden zu haben, vor allem wenn man bedachte, dass ihm offenbar die Flucht gelungen war. Doch in der Zeit, in der er die Journaleinträge für Sequana freigab, hätte er seinen Freund Bertrand offen informieren können. Was trieb Doignac für ein Spiel? Oder hatte er Angst? Aber wovor konnte er Angst haben? Dass seine Nachrichten und Informationen abgefangen wurden? Oder traute er auch seinen Freunden und Schützlingen nicht weit genug, als dass er sie vollständig einweihte? Gerade der letzte Gedanke war es, der Sequana argwöhnisch werden ließ.
„Diese Bruchbude hier“, sie streckte die Arme aus und ließ den Blick durch den großen Raum schweifen, „wie kann man hier leben?“
„Ich lebe hier nicht. Wie kommst du darauf? Es ist nur ein Treffpunkt. Heute Morgen stand ein Sec-Team vor meiner Tür, da habe ich es vorgezogen, unauffällig zu verschwinden. Und der Ort bietet sich als Versteck an“, sagte Gallea offen.
„Ich habe es selbst kaum gefunden“, bestätigte Sequana, „und ich wusste, wo ich suchen musste. Ich frage mich nur, wie man überhaupt darauf kommt, hier nach einem Unterschlupf zu suchen.“
„Welches ist der beste Ort in Paris, um sich zu verstecken, wenn man nicht raus in die Randgebiete fahren will?“ Gallea sah sie fragend an.
„Der Bois de Boulogne, schon klar ...“
Sequana biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte versucht, das Gespräch auf Galleas Vergangenheit und die Verbindung zu diesem Haus zu leiten, doch so einfach wollte er es ihr offenbar nicht machen. Sie dachte darüber nach, ihn mit ihrem Wissen zu konfrontieren, vielleicht sogar ihre wirkliche Identität zu enthüllen. Was hatte der Professor über Bertrand Gallea gesagt: „Wenn ich einen Vertrauten brauchen sollte, dann würde ich zu ihm gehen.“ Doch das hatte er nicht gemacht. Nur weil er nicht konnte? Oder weil er in den fast drei Jahren nach diesem Journaleintrag
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