Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
sich Sequana näher ansehen wollte. Sie machte einige schnelle Schritt durch den Raum hindurch und blieb vor dem Podest stehen. Ein skeptischer Blick zur Decke verriet ihr, dass diese in diesem Moment keine Anstalten machte, weiter nachzugeben. Dennoch forderte sie ihr Glück mit dem Podest lieber nicht heraus, auf dem immerhin seit Jahrzehnten ein schweres Instrument stand. Sequana blies die dicke Staubschicht von den Gegenständen auf dem Flügel. Eine heruntergebrannte Kerze stand dort. Doch viel mehr interessierte sie das kleine Bild, das neben dieser aufgestellt war. Sie griff danach und wischte über das Glas. Darunter kam eine Fotografie zum Vorschein. Diese zeigte drei junge Mädchen zusammen auf der Veranda der Villa. Die drei mussten etwa sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als das Bild entstanden war. Sequana erkannte Ninive in der Mitte, den verschlossenen Gesichtsausdruck, den sie von ihr gewohnt war, hatte sie offenbar schon damals. Auf der linken Seite erkannte sie sich selbst wieder, auch wenn ihr der Anblick des unbeschwert grinsenden Mädchens mit den widerspenstigen dunklen Strähnen fremd erschien. Die dritte im Bunde erkannte sie nicht sofort, aber sie war sich sicher, dass das Sasha sein musste. Sasha war Ninive ähnlich, jedoch war ihr Haar eher strohblond als das helle Weißblond Ninives. Ihre Haut war leicht gebräunt von der Sonne, während Ninive, so lange Sequana sie kannte, immer eine Haut hatte, die eher an Elfenbein erinnerte. Doch der größte Unterschied war der Ausdruck. Die kleine Stupsnase und warmen, grünen Augen passten zu dem fröhlichen Lächeln, während Ninives schmale, streng geschnittene Nase und die kühlen blauen Augen regungslos in die Kamera starrten.
Das Bild zeigte trotz Ninives ernstem Gesicht eine Unbeschwertheit und Zufriedenheit, von der Sequana nicht mehr gewusst hatte, dass diese existieren könnte. Sie schluckte schwer und stellte es zurück auf den Flügel. Dabei fiel ihr eine verblasste Schrift auf der Rückseite auf. „Sequana Sidé, Ninive Solheim und Sasha Bréa im Sommer 89, Bois de Boulogne.“ Sequana war sich nun nicht nur sicher, dass das dritte Mädchen Sasha gewesen war, sie hatte auch einen Nachnamen, nach dem sie suchen konnte, sobald sie das Verschwinden Doignacs geklärt hatte. Sie wollte sich bereits umdrehen, doch dann warf sie einen kurzen Blick auf den Flügel und verstaute das Bild in ihrem Rucksack. Während sie zur Eingangshalle zurückkehrte, überlegte sie, wer das Bild dort aufgestellt hatte. Der Staubschicht und dem Zustand des Raumes nach zu urteilen, musste es schon mehrere Jahre dort gestanden haben. Natürlich dachte sie an Bertrand Gallea, doch was hatte Professor Doignac in seinem Journal gesagt? Sie hatten über Ninive gesprochen, nachdem sie für die Expedition rekrutiert wurde, aber Gallea wusste nichts von den vier geretteten Klonen. Das kam ihr sonderbar vor. Hatte Gallea zur Zeit, als er mit Doignac zusammen das Projekt gestartet hatte, die Namen der Probanden nicht gekannt? Oder hatten sie andere Namen gehabt? Andererseits hätte es ihm doch sonderbar vorkommen müssen, dass in Doignacs späterem Betreuungsprogramm wieder eine Ninive Solheim auftauchte. Und die Frau in Doignacs Appartement hatte ihr gesagt, Bertrand Gallea hatte sie beauftragt, Sequana zu ihm zu bringen. Also musste er auch von ihr wissen.
Ein Schauder lief Sequana über den Rücken. Sie hatte das Gefühl, dass etwas an der Geschichte nicht stimmte. Wie sehr konnte sie Doignac eigentlich trauen? Der Professor hatte ihr damals das Leben gerettet und sie in seiner Betreuung über Jahre wie eine Tochter behandelt. Andererseits hatte er sie anonym auf die Spur von Ninive angesetzt, und die Journaleinträge, die er freigegeben hatte, konnten ebenso manipuliert sein. Woher sollte sie wissen, dass diese tatsächlich an den Tagen aufgenommen worden waren, unter denen sie im Journal gespeichert waren. Sie würde Bertrand Gallea einige Fragen stellen müssen, sobald sie ihn gefunden hatte.
31 | UNTERWEGS
Der Kampf war vorbei. Ninive lag erschöpft auf der Rückbank des Militärjeeps. Das Energiefeld, das sie geschützt hatte, hatte Isaak dank ihrer Unterstützung gerade solange aufrecht halten können, bis die letzte Ossfhang vor Seamus Pistole gelaufen war. Er atmete erleichtert auf und verschaffte sich einen Überblick über ihre Lage. Lilian stützte Isaak und half ihm auf den Beifahrersitz des Jeeps. Es waren keine weiteren Feinde mehr zu sehen,
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