Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
herauszufinden, die ihr bislang verschlossen geblieben waren. Sie wusste, dass Solvejg ein Journal führte, von dem sie ihr hin und wieder erzählt hatte, doch auch wenn die Patientin ihrer Ärztin die Berechtigung geben wollte, so verhinderte die Bürokratie der Berechtigungsstufen Eva den Zugriff. Bis jetzt.
Das Journal war psychologisch nicht uninteressant, hielt jedoch wenig Neues für Eva bereit. Allerdings fand sie in den Bereichen der Akte, die ihr bislang unzugänglich waren, einige Hinweise auf Solvejgs Herkunft, die sie weitaus mehr interessierten. Weniger als Ärztin, sondern vielmehr aus persönlicher Neugier. Die Informationen waren nicht sehr aufschlussreich, aber sie boten einige Anhaltspunkte für eine weitere Recherche. Sie wusste bereits, dass Solvejg aus Paris stammte, doch die genauen Umstände kannte sie bislang nicht. Nun fand sie in der Akte einen Hinweis auf einen Mittelsmann in Amsterdam, einen gewissen Clef van Ijssel, der den Transfer Solvejgs von Paris nach Hamburg arrangiert hatte. Eva markierte den Namen für eine weitere Recherche. Das Problem war, dass Amsterdam nach der letzten verheerenden Flut vor fast zwanzig Jahren nicht mehr wieder aufgebaut worden war. Allerdings waren viele Überlebende nach Hamburg geflohen. Mit etwas Glück ließ sich der Name in den Registern der Stadt nachverfolgen.
Clef van Ijssel stand in engem geschäftlichen Kontakt sowohl zu Pariser Unternehmern als auch zu einigen Hamburger Ministern. Eine davon war Henna Sandkoog, Ministerin außer Dienst für Kommunikation und Informationshandel, die auch in Solvejgs Akte auftauchte. Sie hatte die Einfuhr von Klonen offiziell bewilligt. Und offenbar nicht nur in Solvejgs Fall. Zusammen mit ihr war noch ein weiterer Klon nach Hamburg gekommen. Eine Kennnummer war nicht vermerkt, aber der Name Siam.
Eva legte das Pad zur Seite und stand aus dem Sessel auf. Sie warf einen Blick in den Regen, dann ging sie ins Wohnzimmer. Solvejg lag dort bäuchlings auf dem Sofa, ihre Füße wiegten langsam in der Luft hin und her, während sie interessiert in ihr eigenes Pad blickte. Eva ertappte sich erneut dabei, wie sie ihre Patientin stumm betrachtete. Sie waren nach dem Frühstück einkaufen gegangen. Solvejg hatte nur sehr wenige eigene Kleidungsstücke, und viele davon passten ihr nicht mehr. Während der letzten zwei Jahre war sie fast ununterbrochen in Kliniken gewesen und in Krankenhauskleidung herumgelaufen. Eva war erstaunt gewesen, wie sicher sie sich dennoch im Einkaufszentrum bewegte, einem Ort, an dem die Menge an Menschen nur noch übertroffen wurde von der Vielzahl an audiovisuellen Reizen – Werbespots, Leuchtschriften, Informationstafeln, Hinweisschildern, Hintergrundmusik. Dennoch hatte es sie einige Mühe gekostet, Solvejg den Sinn neuer Kleidung zu erklären. Als sie das jedoch verstanden hatte, zeigte sie sich kooperativ. Es war Eva so vorgekommen, als kleide sie eine Schaufensterpuppe ein. Solvejg schien keinen eigenen Modegeschmack zu haben und zog bereitwillig das an, was Eva ihr gab. Sie hatte schnell Freude daran gefunden, und erneut stellte sie sich die Frage, ob es eher ein mütterliches Gefühl war, das sie Solvejg entgegenbrachte, oder ob sie nicht in Wahrheit mehr für sie empfand.
„Ich bin gleich fertig“, teilte ihr Solvejg unvermittelt mit und zupfte sich den weiten Ausschnitt ihres Strickpullovers zurecht, der ihr immer wieder über die Schulter rutschte. Eva hatte sich bereits gefragt, ob ihre Anwesenheit bemerkt worden war.
„Lass dir Zeit, wenn du sie brauchst“, entgegnete sie und deutete mit dem Daumen zurück zur Küche. „Ich mache uns etwas Warmes zu trinken gegen dieses Schietwetter.“
Sie sah Solvejg leicht nicken, ohne den Blick vom Compad abzuwenden, dann verschwand sie erneut in der Küche.
Als sie wenige Minuten später mit zwei großen Tassen heißer Schokolade zurück ins Wohnzimmer kam, stand Solvejg vor dem großen Fenster und spähte in den Regen hinaus. Es dämmerte bereits wieder, und das Ambientlight tauchte den Holzboden in einen warmen Schein. Eva betrachtete Solvejgs Gesichtszüge, die sich in der Scheibe spiegelten. Ihr Blick wanderte flüchtig an ihrer Patientin hinab. Sie hatte ihr die richtigen Kleider gekauft, stellte sie zufrieden fest. Der lange dunkle Rock saß perfekt an ihren Hüften und fiel bis kurz über die nackten Knöchel oberhalb der alten Wollsocken, die sie aus ihrem eigenen Kleiderschrank gefischt hatte. Der weite Pullover war für sie
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