Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
nicht zu warm und bedeckte zudem ihren Oberkörper nur soweit, dass …
Eva schüttelte den Gedanken ab. Sie war ihre Patientin, und das war nur eines der Probleme, die ihr im Weg stehen würden, wenn sie diesen Gedanken nachgab. Sie setzte sich auf das Sofa und stellte die beiden Tassen auf dem kleinen Beistelltisch ab.
„Was beobachtest du?“, fragte sie Solvejg interessiert.
„Den Himmel“, gab sie als Antwort.
„Außer Grau gibt es dort heute wohl nicht viel zu sehen“, Eva lächelte leicht, als sie von der Seite Solvejgs Stirnrunzeln betrachtete.
„Wildgänse. Es ist die Jahreszeit. Wildgänse fliegen jetzt nach Afrika.“
„Kannst du sie sehen?“, Eva warf selbst einen Blick hinaus zum Himmel, doch sie erkannte dort nichts.
„Ja. Wenn ich meine Energie konzentriere, dann sehe ich sie. Die Gänse und die Schiffe.“
„Ha! Jetzt hab ich dich!“, Eva lachte ausgelassen. „Die Gänse hätte ich dir abgenommen, aber Schiffe? Keine Chance.“
Solvejg wandte sich vom Fenster ab und setzte sich neben Eva auf das Sofa. Sie nahm ihre Tasse und trank vorsichtig einen kleinen Schluck, doch das Getränk war ihr offensichtlich noch zu heiß.
„Warum haben die Schiffe keine Chance?“, fragte Solvejg.
„Ich meine damit, dass ich dir nicht glaube, dass du Schiffe gesehen hast. Es gibt Tage, da fahren Schiffe auf der Elbe – unten auf dem Wasser. Aber nicht im Himmel.“
„Aha“, Solvejg war offensichtlich wenig überzeugt, sagte aber nichts weiter.
„Solvejg? Kennst du jemanden namens Siam?“, fragte Eva schließlich.
„Siam?“, Solvejg schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich glaube, der Professor kennt Siam.“
„Professor … Coolridge?“, fragte Eva nach.
„Ja. Er hat mir erzählt, Siam war meine Schwester.“
„Deine Schwester?“, entgegnete Eva und bemühte sich, nicht zu aufgeregt zu klingen. „Ich wusste nicht, dass du … dass ihr …“
„Ja, seine Geschichte macht keinen Sinn“, stimmte Solvejg zu, „aber er meinte das metaphorisch. Ich weiß nicht, was das bedeutet.“
„Hast du ihn nie danach gefragt?“
„Nein“, Solvejg rutschte ein Stück auf dem Sofa zur Seite, dann legte sie sich seitwärts hin, den Kopf in Evas Schoß, und zog die Beine an. „Gespräche mit dem Professor waren leider ineffizient.“
Eva nickte und sah aus dem Fenster. Sie spürte das Gewicht von Solvejgs Kopf in ihrem Schoß, die leichte Bewegung ihrer Schultern an ihrem Bein. Angst beschlich sie, Angst vor ihren Gefühlen. Doch während sie auf dem Sofa saß und gedankenverloren in den Himmel blickte, war das einzige, was sie fühlte, dass sie nicht alleine war. Ein wärmender Gedanke im Angesicht des trostlosen Regengrau.
„Ich hoffe, die Schiffe haben doch eine Chance“, murmelte Solvejg leise. Eva unterdrückte ein Lachen und griff nach ihrer Tasse. Und dann sah sie die Wildgänse.
41 | UNGEREIMTHEITEN
„Morgen Sonnenschein!“ Die freundliche Begrüßung stand im Kontrast zum energischen Rütteln an ihrer Schulter. Ninive zog sich die dünne Bettdecke über den Kopf.
„Hey!“, Lilian gab nicht auf und wuschelte ihr mit der Hand durch die Haare, „ich habe uns Frühstück besorgt.“
„Dein Frühstück kenne ich“, murrte Ninive ohne die Decke loszulassen, „schlechter Kaffee und widerliche Kekse, die darin langsam aufweichen.“
„Bei dir hört sich das an, als wäre das was Schlechtes“, Lilian klapperte mit etwas neben Ninives Kopf herum. „Aber ich habe das Beste geholt, was ich in der Messe finden konnte.“
Ninive schlug die Decke zurück und machte die Augen auf. Lilians Versuch, sie von dem Gespräch der letzten Nacht abzulenken, war ebenso durchschaubar wie wirkungsvoll. Ninive fühlte sich zwar noch immer so, als habe ihr Isaak den Boden unter den Füßen weggezogen, doch an diesem Morgen fühlte es sich eher wie ein Zustand der Freiheit und Schwerelosigkeit an. Sie strampelte sich von der Decke frei, setzte sich abrupt auf und ertappte sich dabei, wie sie das anschließende Schwindelgefühl genoss.
„Wieso bist du eigentlich so widerlich gut gelaunt?“, erkundigte sich Ninive und warf einen Blick auf das Frühstück, das Lilian organisiert hatte. An Bord lagerte offensichtlich Fracht, die auch die Verköstigung höherer Persönlichkeiten zugelassen hätte. Sie fragte sich, wer die Fracht geladen hatte und warum.
„Erstens bin ich immer gut gelaunt, wenn ich nicht gerade wütend bin, weil ich unter einer toten Ossfhang begraben werde. Zweitens
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