Soljanka (German Edition)
redlich verdient. Und es
verpflichtet dich zu nichts.«
Stamm lächelte freudlos. »Verdient hätte ich maximal ein Drittel.
Und das hab ich gestern Abend locker verfressen und versoffen. Ganz zu
schweigen von dem, was in Rauch aufgegangen ist.«
Wanja zog die Augenbrauen hoch, gab sich aber schnell geschlagen.
»Ich halt’s zwar immer noch für blöd, aber du bist erwachsen.« Er faltete die
Scheine wieder zusammen und verstaute sie. »Tja, ich muss wieder los.«
Er verabschiedete sich von Eva, danach begleitete ihn Stamm
hinunter. Wanja zog seine Jacke an und klopfte gewohnheitsmäßig die Taschen ab.
»Oh«, rief er, »ich bin wohl doch noch nicht hundertprozentig wieder
da. Fast hätte ich das hier vergessen.« Er zog einen weißen Briefumschlag aus
der Jackentasche und hielt ihn Stamm hin. »Guckte aus eurem Briefkasten raus.«
Stamm verzog gequält das Gesicht.
»Keine Sorge«, lachte Wanja, »da ist kein Geld drin. Er lag wirklich
in eurem Briefkasten.«
Stamm nahm den Umschlag mit einer Miene entgegen, als wäre es
Hundescheiße.
»Was ist los?«, fragte Wanja.
Stamm warf einen Blick zur Treppe, dann sagte er leise: »Ich ruf
dich an.«
Wanja zuckte die Schultern und verabschiedete sich. Stamm öffnete
den Umschlag. Er enthielt ein Blatt Papier, darauf ein paar Sätze in
Druckschrift, akkurat gesetzt und fehlerlos: »Meine geliebte geile Schlampe, du
tust immer noch so, als würdest du mich nicht kennen. Aber mich kannst du nicht
täuschen. Ich weiß genau, dass du dich danach verzehrst, meinen harten Schwanz
in dir zu spüren. Bald ist es so weit. Bald wirst du die höchsten Stufen des
Glücks kennenlernen, wenn wir endlich zueinanderfinden.«
Stamm steckte das Blatt Papier wieder in den Umschlag und stopfte
ihn in die Innentasche seiner Jacke, die an der Garderobe hing. Er
vergewisserte sich, dass der Umschlag nicht zu sehen war, und ging langsam
wieder nach oben.
In der Nacht waren zwanzig Zentimeter Schnee gefallen, so viel
wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr auf einen Schlag. Das Chaos auf den
Straßen war unbeschreiblich. Auf den wichtigsten Verkehrsadern war wenigstens
die Unfallgefahr gering, obwohl sich auch diese Fahrbahnen nur allmählich in
graubraune Matschpisten verwandelten. Aber es bewegte sich auf ihnen so gut wie
nichts. Nicht ganz so stark befahrene Hauptstraßen hatten eine festgefahrene
Schneedecke. Am gefährlichsten waren die Nebenstraßen, unter deren Schneedecke
die Eisschicht nicht geschmolzen war. Die Streufahrzeuge hatten gar nicht erst
versucht, kleinere Straßen zu entschärfen, sie hatten schon auf den
Hauptstraßen ihre Salzvorräte verbraucht.
Stamm ließ das Auto stehen und ging zu Fuß zur Endhaltestelle der
712. Ein entfernter Nachbar war nicht so schlau gewesen und nur ein paar Meter
weit gekommen. Dann hatte sich sein Audi zwischen zwei geparkten Wagen
verkeilt. Stamm konnte sich ein hämisches Grinsen kaum verkneifen. Der
jungdynamische Idiot aus Nummer 10 jagte seinen aufgemotzten A3 auf der nicht
einmal hundert Meter langen Abteihofstraße regelmäßig auf siebzig hoch. Jetzt
lief er neben seinem zerbeulten Schmuckstück auf und ab und fluchte ins Handy.
Aus den Wortfetzen, die er aufschnappte, schloss Stamm, dass er die Polizei
beschimpfte, weil sie noch nicht da war. Stamm schlenderte vorbei und gab den
Gaffer.
»Sommerreifen?«, fragte er, als der Mann auf ihn aufmerksam wurde.
Bevor dieser etwas entgegnen konnte, war Stamm schon in die Volmerswerther
Straße abgebogen.
An der Haltestelle warteten um die hundert Leute, teils ungeduldig,
teils resigniert, aber alle mit roten Nasen. Stamm ging weiter. Bis zum
Aachener Platz war ihm noch keine Bahn entgegengekommen, und der Taxistand war
natürlich auch leer. Es war schon nach neun. Er rief in der Redaktion an.
Christa Kümmel, die Sekretärin, hatte es tatsächlich geschafft, pünktlich zu
sein.
»He, wieso bist du schon da?«, fragte Stamm.
»U-Bahn.« Christa Kümmel wohnte in der Nähe der Philipshalle und
konnte sowohl die U-Bahn als auch die S-Bahn benutzen, um zur Arbeit zu fahren.
»Bei mir könnte es noch ein Stündchen dauern«, sagte Stamm, »hier
ist keine Straßenbahn in Sicht.«
»Wirst wahrscheinlich trotzdem der Erste sein. Hanne steht immer
noch in Mönchengladbach auf der Autobahn. Und Werner kommt nicht einmal aus
seiner Straße raus.« Stamms Kollege Werner Meister wohnte an einer Hangstraße
in Mettmann.
Stamm setzte seinen Marsch fort. Eine halbe Stunde später erreichte
er
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