Soljanka (German Edition)
das
Auto nachher stehen lassen. Gleich nebenan gibt es ein nettes Restaurant, und
ich wohne nur zwei Straßen weiter.«
»Gefällt mir immer besser.«
Die »Goldene Kugel« war ein kleines Hotel im Zentrum von Waren,
das in den Jahren nach der Wiedervereinigung offenbar auf Weststandard
renoviert worden war. Inzwischen hatte die Raufasertapete aber einen
Neuanstrich nötig. Stamm stellte seine Reisetasche im Zimmer ab und rief zu
Hause an. Eva ging es bis auf ein leichtes Sodbrennen gut.
Dann machte er sich auf den Weg in das Restaurant, in dem Dr.
Terlinden auf ihn wartete.
Draußen schuf der Schnee eine gedämpfte Stimmung. Er schluckte jedes
Geräusch und verlangsamte jede Bewegung. Die wenigen Autos, die unterwegs
waren, schlichen fast lautlos dahin. Eine Stadt in Watte. Das Licht der
Straßenlaternen wurde zwar vom Schnee reflektiert, aber Stamm empfand die
Verstärkung nicht als heller, sondern als fahler. Und über allem dieser
besondere Geruch, an dem man im Winter Ost- von Weststädten immer noch
zuverlässig unterscheiden konnte. Die Braunkohleheizungen liefen auf
Hochtouren, bei der herrschenden Windstille lag der Smog schwer über der Stadt.
Eine Digitalanzeige über einer Apotheke gab die Temperatur mit minus elf Grad
an.
Erleichtert zog Stamm die schwere Tür der Gaststätte auf. Elf
Augenpaare richteten sich auf ihn. Drei Männer im Frührentneralter standen an
der Theke und hielten sich an Pilsgläsern fest. Ein weiterer Mann, mutmaßlich
der Wirt, leistete ihnen hinter der Theke Gesellschaft. Eine freudlos wirkende
Kellnerin stand zwei Meter daneben und rauchte eine Zigarette. An einem Tisch
zersägten drei weitere Männer in Business-Uniform, unter ihnen ein Asiate,
dachpfannengroße T-Bone-Steaks. Ein älteres Paar rauchte und schwieg an einem
weiteren Tisch.
Das elfte Augenpaar gehörte Dr. Silvia Terlinden. Sie saß
abseits am letzten Tisch des Schankraums, vor sich eine dampfende Tasse. Stamm
grüßte und ging nach hinten durch. Kaum hatte er die Jacke ausgezogen und sich
einen Stuhl zurechtgerückt, stand die Kellnerin neben ihm.
»Was darf’s sein?«, fragte sie überraschend freundlich.
»Tja … Was haben Sie denn da Feines?«, fragte er Dr. Terlinden.
»Grog.«
»Hm, wär bei dem Wetter auch nicht schlecht, aber ich lechze nach
einem Bier, seit ich durch Lübz gefahren bin.«
»Ein Pils?«, fragte die Kellnerin.
»Genau.«
»Möchten Sie die Speisekarte haben?«
»Ich sterbe vor Hunger«, antwortete Stamm gut gelaunt.
Die Kellnerin drehte ab und brachte kurz darauf die Karte.
»Was isst man denn in Mecklenburg so?«, fragte Stamm, nachdem er das
Speisenangebot überflogen hatte.
»Hier kommt Herzhaftes auf den Teller. Wenn Sie so einen Bärenhunger
haben, können Sie es ja mit einer Fuhrmannspfanne probieren. Schmeckt so, wie
es sich anhört. Fisch ist uns auch nicht fremd. Wir sind schließlich umgeben
von Seen. Maräne würde ich Ihnen zum Beispiel empfehlen, ein guter
Müritzfisch.«
»Hm«, machte Stamm zögernd. »Was nehmen Sie?«
»Ich werde es wohl bei einer Soljanka bewenden lassen. Ich esse
abends nicht so viel.«
Er sah sie fragend an.
»Eine saure russische Suppe mit viel Gemüse und Rindfleisch. War
nicht alles schlecht, was uns die Russen gebracht haben.«
Stamm klappte die Karte zu. »Dann werde ich das mal probieren. Erst
Soljanka, dann Maräne. Geht das zusammen?« Er sah Dr. Terlinden fragend
an.
Sie zuckte die Schultern. »Wieso nicht?«
Die Kellnerin kam mit seinem Bier, und sie bestellten das Essen.
Stamm holte die Gauloises Blondes aus seiner Jacke und bot der
Ärztin eine an. Zu seiner Überraschung nahm sie an. Er gab ihr Feuer, und sie
rauchten schweigend ein paar Züge. Schließlich sagte sie unsicher:
»Wollen Sie erst in Ruhe essen, oder …?«
»Wir können auch gleich anfangen. Sie wollen ja auch mal Feierabend
haben.«
Stamm meinte, in ihrem Gesichtsausdruck einen melancholischen Zug
auszumachen.
»Wie wollen wir vorgehen?«, fragte sie. »Wollen Sie Fragen stellen?«
Stamm schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja praktisch nichts von Ihrer
Patientin. Ich schlage vor, Sie erzählen mir alles, was Sie für richtig halten.
Ich hake dann gegebenenfalls ein.«
Sie blickte auf ihren Grog hinunter und schien ihre Gedanken zu
sammeln.
»Ich geb Ihnen zunächst eine Kurzfassung, dann können Sie ja selber
sagen, was Sie noch interessiert. Angela – ich will es vorläufig beim Vornamen
belassen …« Sie bemerkte sein feines Lächeln.
Weitere Kostenlose Bücher