Soljanka (German Edition)
»Ja ja, Angela war ein beliebter
Name in Mecklenburg. Also sie ist jetzt zweiunddreißig und seit vierzehn Jahren
in Behandlung. Mit neunzehn wurde sie wegen schwerer depressiver Störungen in
die geschlossene Psychiatrie in Berlin eingewiesen. Sie galt als stark
suizidgefährdet, eine Schizophrenie wurde diagnostiziert. Im Lichte späterer
Erkenntnisse eine Fehldiagnose. Entsprechend wenig wirksam war die klassische
Therapie mit Neuroleptika. Ich will meinen Kollegen keinen Vorwurf machen, die
Symptome ließen die Diagnose durchaus zu, es kommt häufig vor, dass dissoziative
Identitätsstörungen nicht erkannt werden. Insbesondere physiologisch
orientierte Kollegen begeben sich ungern auf das Glatteis dieses diffusen
Krankheitsbildes. Wie auch immer, bei Angela trat es immer deutlicher zu Tage,
dass sie an einer psychisch bedingten Persönlichkeitsstörung litt. Wie ich
Ihrem Artikel entnommen habe, haben Sie sich mit dem Thema beschäftigt, sodass
ich mir allgemeine Ausführungen ersparen kann. Sie wissen also auch, dass die
Ursachen dissoziativer Störungen fast immer in traumatischen Erlebnissen,
zumeist in der Kindheit, zu suchen sind. Angela wurde schließlich aus der
Psychiatrie entlassen und kam in psychotherapeutische Behandlung. Sie ist seit
bald zwölf Jahren meine Patientin, und inzwischen ist die Prognose gar nicht so
schlecht. Sie schafft es zunehmend, ihre verschiedenen Selbstzustände zu einem
einheitlichen Empfinden zu integrieren. Um es laienhaft auszudrücken: Sie
findet immer mehr zu sich selbst und scheint allmählich bereit zu sein, ihre
eigentliche Identität zu akzeptieren – mit allen furchtbaren Erlebnissen, die
sie durchgemacht hat. Dies ist auch der Grund, weshalb ich letztlich
einverstanden war, dass sie Ihnen ihre Erfahrungen schildert. Ich habe den
Eindruck, dass sie es verkraften kann, sich mit ihren Traumata
auseinanderzusetzen.«
Sie hielt inne, als sie die Kellnerin mit der Suppe kommen sah.
»Was sind das für Traumata?«, fragte Stamm, als sie wieder allein
waren.
»Kontinuierlicher sexueller Missbrauch, mindestens in der Jugend,
vielleicht schon in der Kindheit.«
»Durch wen?«
Dr. Terlinden ließ den Löffel sinken und sah Stamm an.
»Höchstwahrscheinlich ihr Vater, vielleicht auch andere Männer. Angelas
Schilderungen deuten auf rituelle Vergewaltigungen hin. Sie spricht von einem
Orden, der unter Führung eines schwarzen Großmeisters okkulte Rituale
durchgeführt hat, offenbar in einer abgelegenen Jagdhütte im Nationalpark.
Angela ist noch nicht so weit, dass sie den schwarzen Großmeister mit ihrem
Vater gleichsetzt. Aber ich bin davon überzeugt, dass es so ist.«
Stamm nickte langsam vor sich hin, bemüht, seine aufkommende
Enttäuschung zu verbergen. »Das volle Programm also«, nuschelte er. »Haben Sie
Anzeige gegen den Vater erstattet?«
»Natürlich. Aber die Ermittlungen sind nach ein paar Monaten
eingestellt worden.«
»Aha.« Stamm konzentrierte sich auf die Reste seiner Soljanka, um
Dr. Terlinden nicht in die Augen sehen zu müssen. »Es konnte ihm nichts
nachgewiesen werden.«
Als die Ärztin nichts erwiderte, blickte er auf. Sie lächelte müde.
»Sie glauben, dass Sie Ihre Zeit verschwenden, stimmt’s?«
»Nun ja, googeln Sie ›okkulte Sexrituale‹, und Sie finden schwarze
Großmeister und Kapuzenmänner in rauen Mengen. Bloß bewiesen ist davon so gut
wie nichts.«
»Hören Sie erst zu Ende zu! Ich glaube schon, dass die Ermittlungen
erfolgreich gewesen wären. Aber bitte, ich räume ein, dass ich dazu keine
genaueren Angaben machen kann. Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, was mit
Angela passiert ist, ich kann es mir nur aus ihren Schilderungen erschließen.
Die Behörden haben mich über den Verlauf der Ermittlungen auch nicht
informiert. Ich gehe davon aus, dass der Staatsanwaltschaft letztlich die
Grundlage entzogen wurde.«
»Inwiefern?«, fragte Stamm mit neu erwachter Neugier.
»Angelas Vater ist gestorben, ein paar Monate, nachdem er sich
abgesetzt hatte.«
»Es gibt offenbar noch Gerechtigkeit in dieser Welt. Oder war’s
Altersschwäche?«
»Er war achtundfünfzig. Erinnern Sie sich noch an Kaprun?«
Stamm sah sie zweifelnd an. »Die Brandkatastrophe in der Bergbahn?
Wie kam er denn dahin?«
»Keine Ahnung. Anscheinend war er nach Österreich geflüchtet. Für
mich war das ein klares Schuldeingeständnis.«
Stamm schob den Suppenteller von sich und nippte an seinem Bier.
»Wenn ich Sie bis hierhin richtig verstanden
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