Soljanka (German Edition)
aufeinandergeschoben.
Meterhoch hatten sich bizarr gezackte Eisberge aufgetürmt. Zitternd, aber mit
glücklichem Gesichtsausdruck kuschelte sich Eva in Stamms Arme.
»Allein für diesen Anblick hat es sich gelohnt mitzukommen«,
murmelte sie durch den Schal, den sie vor das Gesicht gezogen hatte. Nach ein
paar Minuten hatten sie aber das Gefühl, auf den Holzbohlen festzufrieren, und
sie kehrten zurück.
Um vier waren sie im Hotel »Zur goldenen Kugel«. Stamm hatte nicht
reserviert, aber richtig darauf spekuliert, dass es in dieser Jahreszeit mitten
in der Woche kaum ausgebucht sein würde. Obwohl die Heizung im Zimmer voll
aufgedreht war, kroch Eva angezogen ins Bett und zog sich die Decke bis zum
Hals, um die Kälte aus den Gliedern zu bekommen. Stamm setzte sich daneben und
schaltete den Fernseher ein. Er nutzte die seltene Gelegenheit, sich endlich
einmal eine der berüchtigten Gerichtsshows anzusehen, die zum Synonym für den
Niedergang des Fernsehens geworden waren. Danach wusste er, warum.
Um fünf überlegten sie, ob sie vor dem Besuch bei Udo März noch
irgendwo etwas essen sollten, entschieden sich aber dagegen. Die Stullen im
Auto hielten noch vor.
»Willst du mitkommen oder dich hier noch ein wenig ausruhen?«,
fragte Stamm.
»Ach so, da war ich jetzt gar nicht drauf gefasst. Kann ich denn
mitkommen? Nicht dass ich den guten Mann vom Reden abhalte.«
»Warum solltest du? Ich stelle dich als Kollegin vor. Ich meine,
mich kennt er ja auch nicht und war trotzdem ohne irgendwelche Mucken bereit,
sich mit mir zu unterhalten. Also ich sehe da kein Problem. Ich habe im
Gegenteil das Gefühl, dass ihn deine Anwesenheit beflügeln wird. Frag mich
nicht, warum!«
Udo März wohnte am Stadtrand in einem ziemlich neuen,
erstaunlich großen frei stehenden Einfamilienhaus, das in Düsseldorf unter
einer halben Million nicht zu haben wäre. In Waren konnte sich das auch ein
pensionierter Beamter des gehobenen Dienstes leisten. Sicherlich ein Grund,
warum der Mann nach Ende seines Arbeitslebens geblieben war, spekulierte Stamm.
Einen weiteren mochten sie bei ihrem nachmittäglichen Spaziergang zum See gesehen
haben: die einzigartige Landschaft.
Auf ihr Klingeln öffnete ein Mann Ende sechzig die Haustür. Er trug
Filzpantoffeln, eine dunkelbraune Cordhose, ein dickes kariertes Flanellhemd
und darüber einen beigefarbenen Pullunder mit V-Ausschnitt. Er musterte die
Besucher kurz aus wachen, ruhigen Augen. Sein buschiger grauer
Walrossschnurrbart verstärkte den Gesichtsausdruck eines Mannes, der in seinem
Leben zu viele miese Dinge gesehen hatte, um sich noch darüber aufzuregen.
»Herr Stamm, nehme ich an«, sagte er mit leiser, tonloser Stimme,
bevor sein Blick auf Eva haften blieb.
»Das ist meine Kollegin, Frau Vossen«, sagte Stamm. »Ich hoffe, es
ist in Ordnung, dass wir zu zweit gekommen sind.«
»Kein Problem«, murmelte März, »solange sie kein Foto von mir machen
will. Das wäre mir nicht recht.«
Eva hob die Arme, um zu zeigen, dass sie keine Kamera dabei hatte.
»Ich bin in der Ausbildung«, sagte sie.
März sah sie mit mildem Zweifel an, dann bat er sie herein. »Ist
frisch bei uns, nicht wahr.« Der norddeutsche Einschlag in seiner Aussprache
war unüberhörbar.
»Einen Tee?«, fragte März. »Oder vielleicht lieber einen Grog.«
»Für mich Tee, wenn’s nicht zu viel Mühe macht«, sagte Eva.
»Für mich auch, ich muss noch fahren«, schloss sich Stamm lächelnd
an.
März nahm ihnen die Jacken ab, führte sie ins schummrig beleuchtete
Wohnzimmer und forderte sie auf, an einem groben Eichentisch Platz zu nehmen.
Zur Auswahl standen eine Eckbank und zwei Stühle. Stamm und Eva rutschten auf
die Bank. Dann ging März wieder hinaus, um nach einer Minute zurückzukehren.
»Tee kommt gleich«, sagte er. »Meine Frau hatte sowieso gerade
Wasser gekocht.« Er setzte sich Stamm gegenüber auf einen Stuhl. »Ja, also, Sie
wollen was über diese traurige Geschichte mit Angela Dembski und Rico Fenten
hören. Um ehrlich zu sein, ich ringe noch ein wenig mit mir, ob ich Ihnen dazu
etwas erzählen darf. Und wenn ja, ob es im Sinne aller Beteiligten klug wäre.
Darf ich zunächst fragen, warum Sie sich dafür interessieren?«
»In erster Linie wegen Angela Dembski. Ich habe sie vor ein paar
Tagen kennengelernt. Sie hatte über Frau Dr. Terlinden Kontakt zu mir
aufgenommen, nachdem ich über einen anderen Fall von satanistischer Folter berichtet
hatte. Angela Dembski leidet heute noch an einer
Weitere Kostenlose Bücher