Soljanka (German Edition)
darüber
hätten Sie die Kontrolle. Wäre das ein Weg?«
Udo März bettete seinen Kopf in die linke Handfläche und sah
abwechselnd Stamm und Eva lange an. Dann setzte er sich aufrecht hin. Leise
sagte er:
»Diese Geschichte hat mich jahrelang gequält. Die Zweifel, ob sich
alles so zugetragen hat, wie das Ermittlungsergebnis es festhält, haben mir den
Schlaf geraubt … Kein anderer Fall in meiner zwölfjährigen Dienstzeit hier in
Waren ist so unbefriedigend verlaufen. Wenn Sie herausfinden, was uns damals
verwehrt war – es würde mir meinen Seelenfrieden zurückgeben.«
Stamm wartete eine Weile, bis das Pathos, das März heraufbeschworen
hatte, verflogen war. Dann fragte er direkt: »Heißt das, Sie glauben nicht an
die Schuld von Rico Fenten?«
»Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann.« März dachte nach, suchte
offensichtlich nach der richtigen Formulierung. »Wie gesagt, niemand weiß, was
wirklich passiert ist. Es kann durchaus sein, dass er’s war. Aber … nun ja, im
Grunde haben Sie schon recht. Ich glaub’s eigentlich nicht. Wir haben zunächst
eine andere Spur verfolgt. Eine durchaus vielversprechende Spur. Dabei waren
die Ermittlungen nicht einfach. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wer Ulrich
Dembski war und welche Rolle er hier in der Gegend vor dem Mauerfall gespielt
hat.«
»Ich bin inzwischen einigermaßen im Bilde«, sagte Stamm.
»Es war für mich nicht ganz einfach, mich hier mit den besonderen
Umständen jener Zeit zurechtzufinden. Ich bin aus Kiel als Aufbauhelfer hierher
abgeordnet worden. Dies war der erste große Fall, mit dem wir es zu tun hatten.
Ich habe zwar die Ermittlungen geleitet, aber sowohl unter mir als auch in der
Behördenleitung waren Beamte und Politiker tätig, die mit dem System hier
aufgewachsen sind. Und Dembski hatte zwar seine Funktion verloren, aber ein
Mann wie er verstand es immer noch, seinen beträchtlichen Einfluss geltend zu
machen. Kurz und gut, wir hatten die Direktive, diskret zu ermitteln.
Angeblich, weil Dembski seiner Tochter die öffentliche Zurschaustellung ersparen
wollte. Ich war noch recht neu hier und konnte die Verhältnisse noch nicht
richtig einschätzen. Ich wollte kein Porzellan zerschlagen, also sind wir
seinem Wunsch nachgekommen. Dennoch hatten wir bald ein paar Hinweise, die zu
einem Juristen aus dem Westen führten.«
Stamm legte die Stirn in Falten. »Van Wateren?«
Nun war die Überraschung auf März’ Seite. »Kennen Sie ihn?«
»Frau Dembski hat seinen Namen genannt. Er hat mit Ulrich Dembski
ein krummes Ding mit einem Mastbetrieb gedreht, wenn ich das der Einfachheit
halber mal so verkürzen darf.«
März nickte ein paarmal vor sich hin. »Da war dieses Volksfest, das
Angela Dembski besucht hat. Einerseits keine schlechte Grundlage für
Ermittlungen. Viele mögliche Zeugen. Ein Aufruf in der Lokalzeitung hätte
sicher schnell Ergebnisse gebracht, aber dieser Weg war uns verwehrt. Von wegen
der Diskretion. Wo fangen Sie da an? Im Grunde war es reiner Zufall, dass wir
überhaupt von der Vergewaltigung erfahren haben. Die ältere Dembski-Tochter
hatte Angela in der Nacht auf dem Volksfest aus den Augen verloren. Und nach
langer vergeblicher Suche hatte sie eine Streife um Hilfe gebeten. Die Beamten
haben eine Weile mitgesucht und sind dann irgendwann zu Dembskis Haus gefahren,
um zu sehen, ob sie vielleicht inzwischen aufgetaucht war. Während sie dort mit
der Mutter sprachen, kam Dembski mit seiner Tochter an. Er sagte, er habe sie
auf einer Weide gefunden, wo sie sich an Stacheldraht verletzt habe. Er wollte
die Beamten wegschicken, aber Angela war sichtlich so übel zugerichtet, dass
sie darauf bestanden, sie ins Krankenhaus zu bringen. Sie waren nicht aus Waren
und kannten Dembski nicht. Deshalb ließen sie sich von ihm auch nicht ins
Bockshorn jagen. Tja, und bei der Untersuchung stellte sich dann heraus, dass
sie vergewaltigt worden war.«
Er legte eine Pause ein und trank einen Schluck Tee.
»Und somit mussten Sie ermitteln«, folgerte Stamm.
März nickte, während er noch einmal an seiner Tasse nippte.
»Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt.«
»Hat Dembski denn irgendwelche Gründe genannt, warum er keine
Ermittlung wollte?«
»Nein. Man muss ehrlicherweise auch sagen, dass er nicht versucht
hat, eine Ermittlung zu verhindern, als die Sache einmal raus war. Ihm war wohl
klar, dass das nicht ging. Es war eine etwas heikle Situation, wir wollten ja
schließlich auch nicht, dass Angela mehr leidet als nötig.
Weitere Kostenlose Bücher