Soljanka (German Edition)
Ein leichtes Krächzen
verriet seine Anspannung.
Stamm schaltete einen Gang zurück. »Ich muss sagen, dass wir noch
nicht sehr weit mit unseren Recherchen sind und wir noch keine gesicherten
Erkenntnisse haben. Sagen wir mal so: Es gibt ein paar Hinweise, die mir das
Gefühl geben, dass Ihr Sohn unschuldig war. Deshalb würde ich gern mit Ihnen
über Rico sprechen.«
Fenten sah mit zusammengepressten Lippen in Stamms Richtung, aber sein
Blick flatterte. Es war deutlich, dass seine Gefühle abschweiften und er sie
nur mit Mühe im Zaum hielt. Mit einem Ruck erhob er sich, drehte ihnen den
Rücken zu und starrte lange zum Fenster hinaus. Eva und Stamm warteten,
tauschten gelegentlich stumme, besorgte Blicke aus. Als sich Ernst Fenten ihnen
wieder zuwandte, hatte er offensichtlich die Kontrolle über sich
wiedergewonnen.
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte er spröde. »Vor allem muss ich
mit meiner Frau sprechen.« Er setzte sich wieder. »Wir beide wissen, dass Rico
unschuldig gestorben ist. Aber nach so vielen Jahren haben wir es geschafft,
nicht mehr mit dem Schicksal zu hadern. Aber ist die vage Aussicht, dass auch
die Welt von Ricos Unschuld erfährt, es wert, den Schmerz wieder aufzuwühlen?
Unseren Sohn bringt uns das nicht wieder zurück.«
»Es ist Ihre Entscheidung«, sagte Stamm und stand auf. Er holte sein
Portemonnaie aus der Jacke und entnahm ihm eine Visitenkarte, die er Fenten
reichte. »Meine Handy-Nummer steht hier drauf. Wir sind noch bis morgen,
eventuell bis Sonntag, in Wismar. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich anrufen
würden.«
Die Frau in der Touristeninformation hatte eine gute Empfehlung
ausgesprochen. Das Öko-Hotel Reingard, in einer kleinen, ruhigen Straße der
Altstadt gelegen, war mit Liebe eingerichtet worden. Historische Möbel und
Accessoires gaben den Zimmern individuellen Charme. Stamm und Eva erhielten das
Bauernzimmer. In der Mitte des Zimmers stand ein antikes (oder antik
gemachtes), klobiges und sehr gemütlich aussehendes Federbett. Sie krochen
beide hinein und wärmten sich, bis Stamm an Evas gleichmäßigen Atemzügen
merkte, dass sie eingeschlafen war. Er löste sich vorsichtig aus ihrer
Umarmung, stand auf und kramte einen alten Fletch-Roman von Gregory McDonald,
den er unmittelbar vor der Abfahrt in Düsseldorf in einem plötzlichen
nostalgischen Impuls aus dem Bücherregal gefischt hatte, aus seiner
Reisetasche. Dann kroch er wieder ins Bett und las eine Stunde, bis ihm in der
einsetzenden Dämmerung die Augen zufielen.
Er schreckte hoch, als das Schlagzeug-Thema zu Beginn von Iggy Pops
»Lust for Life« den Raum erfüllte. Verschlafen tastete er nach dem Handy auf
dem Nachttisch. Das erleuchtete Display zeigte Viertel vor sechs und eine
unbekannte Telefonnummer an.
»Stamm.«
»Hier ist Ernst Fenten. Wir wollten ja noch einmal telefonieren.«
»Ja.«
»Passt Ihnen heute Abend?«
»Natürlich.«
»Wie wär’s dann um sieben bei uns?«
Der Wind hatte sich gelegt, und es hatte aufgehört zu schneien.
Die Altstadt lag unter weißem Pulver, das Gemütlichkeit und Wärme vortäuschte.
Tatsächlich war das Thermometer auf minus elf Grad abgesunken. Die Kälte kroch
langsamer, aber nachhaltiger unter die Kleidung. Eva verspürte eine leichte
Übelkeit. In einer noch offenen Bäckerei kauften sie eine Laugenbrezel, die ihr
über die nächsten zwei Stunden helfen sollte.
Um punkt sieben klingelten sie am Pfarrhaus. Ernst Fenten öffnete
die Tür und bat sie hinein. Er trug immer noch den Norwegerpullover. In der
schmalen Diele nahm er ihnen die Jacken ab, hängte sie auf und führte die Gäste
ins Wohnzimmer, eine kleine, gemütliche Stube, mit soliden, aber abgenutzten
Möbeln aus den Fünfzigern eingerichtet. Unter einer Stehlampe stand ein
Schaukelstuhl. Die Schränke und Regale an den Wänden waren vollgestellt mit
Büchern, in der Mitte des Raums standen ein Zweiersofa und ein kleiner Sessel
mit fadenscheinigem Bezug. Aus irgendeinem Grund suchte Stamm das Zimmer nach
einem Fernseher ab, er fand aber keinen. An der Wand neben dem Fenster stand
ein altes Klavier, in einer langen, schmalen Hartschalenbox, die obendrauf lag,
vermutete Stamm eine Querflöte. Hier wurde offenbar Hausmusik gemacht.
Fenten dirigierte sie zu dem Sofa und fragte, ob sie etwas trinken
wollten. Stamm lehnte ab, er wollte das Gespräch auf Arbeitsebene halten.
Fenten verließ dennoch das Zimmer, nachdem sie sich auf das Sofa gesetzt
hatten, und kehrte nach einer Minute mit einer
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