Soljanka (German Edition)
darauf anzusprechen.
Um halb elf verließen Stamm und Eva Waren in Richtung Wismar.
Zwei Stunden später lenkte Stamm seinen Peugeot von der
Hauptzufahrtsstraße nach rechts zum Bahnhof. Die städtische Blüte aus den
spätmittelalterlichen Zeiten der Hanse war hier in der Altstadt unübersehbar.
Intakte Ensembles aus alten, in den Jahren nach dem Mauerfall flächendeckend
sanierten Giebelhäusern säumten die Straßen und gaben dem historischen
Stadtkern Wismars den Anstrich eines Freilichtmuseums.
Stamm stellte den Wagen in Sichtweite einer gewaltigen
Backsteingotik-Kirche ab. Da Eva dringend etwas essen musste, spazierten sie
durch die Gassen auf der Suche nach einem anständigen Restaurant. In der
Fußgängerzone stießen sie auf das Lokal »Zum Weinberg«, das in einem schmucken
Giebelhaus untergebracht war und schon wegen des an der Ostseeküste absurd
anmutenden Namens ihre Aufmerksamkeit erregte. Nachdem Eva auf der ausgehängten
Speisekarte das Zauberwort »Soljanka« gelesen hatte, wurde ein Besuch
unausweichlich.
Eva stärkte sich mit einem Teller Suppe und sezierte
anschließend mit Hilfe des Kellners die hauseigenen Inhaltsstoffe der
»Weinberg«-Soljanka, während Stamm eine Portion Bratkartoffeln mit Speck und
Spiegelei verputzte. Dann suchten sie die Touristeninformation auf. Eine
freundliche Mitarbeiterin empfahl Stamm ein nettes Hotel, meldete sie gleich an
und drückte ihm noch einen handlichen Stadtplan von Wismar in die Hand. Ein
Blick auf die Karte zeigte ihm, dass sie ihren Wagen nur einen Katzensprung vom
Hotel abgestellt hatten. Und dass die mächtige Kirche, die sie beim Aussteigen
bewundert hatten, St. Nikolai war. Sie beschlossen, vor dem Einchecken im
Hotel einen Schlenker zur Kirche zu machen.
Es herrschte wenig Betrieb auf den Straßen der Innenstadt. Nur wer
dringend etwas zu erledigen hatte, ging bei der Kälte aus dem Haus. Eine graue
Wolkendecke hatte sich über die Stadt gelegt, aber sie wärmte nicht. Ein
Apotheken-Thermometer zeigte minus acht Grad, dazu hatte eine steife Brise aus
Nord eingesetzt. Sie brannte auf der zum Reißen gespannten Gesichtshaut und
trieb ihnen erste Schneeflocken in die Augen. Sie vermummten sich, so gut es ging,
mit ihren Schals und huschten geduckt von Hauswand zu Hauswand, in der
vergeblichen Hoffnung auf etwas Schutz. Obwohl der Weg zur Kirche nicht einmal
zehn Minuten dauerte, kamen sie völlig durchgefroren an.
Drinnen war es wenigstens windstill, und wenn Wasser im Taufbecken
gewesen wäre, wäre es wohl auch nicht ganz gefroren. Aber zum schnellen
Aufwärmen taugte der Kirchensaal nicht. Das beeindruckendste Merkmal der alten
Seefahrerkirche, das entnahm Stamm dem Stadtplan, war das siebenunddreißig
Meter hohe Langschiff, womit es eines der höchsten in Deutschland war. Ein
Raum, der praktisch nicht geheizt werden konnte. Stamm und Eva waren die
einzigen Besucher. Ein älterer Mann, der, eingehüllt in einen wattierten Parka,
Aufsicht führte, bot ihnen Informationsmaterial an. Sie nahmen es dankend an,
brauchten es aber allenfalls zum Nachlesen zu Hause. Denn der Mann, froh über
die unverhoffte Abwechslung und die Möglichkeit, sich warm zu reden, geriet
ohne Umschweife ins Erzählen über die Besonderheiten seiner Kirche.
So erhielt Eva eine unmittelbare Erklärung für den leichten
Schwindel, der sie überkam, wenn sie das gewaltige Gewölbe des Hauptschiffes
bewunderte. Es lag an den extremen Proportionen. Die ohnehin gewaltige Höhe
wurde durch die geringe Breite des Raumes von kaum mehr als zehn Metern
kontrastiert, mit dem Effekt, dass sie auf den Betrachter noch höher wirkte.
Geduldig ließen sich Stamm und Eva über die Eckdaten des Kirchenbaus ins Bild
setzen, sie erfuhren, dass die barocke Ausstattung des spätgotischen Baus mit
einer Sturmkatastrophe im frühen 18. Jahrhundert zusammenhing, folgten
ihrem Führer durch die Seitenschiffe, bis Stamm es schließlich nach einem Blick
auf die Uhr an der Zeit fand, nach Pfarrer Fenten zu fragen. Der alte Mann sah
ihn überrascht an.
»Sie kennen unseren Pfarrer?«
»Wir würden ihn gern kennenlernen«, erwiderte Stamm.
»Versuchen Sie’s nebenan im Pfarramt. Gut möglich, dass er gerade
dort ist.«
Stamm bedankte sich für die Führung und steckte einen
Fünf-Euro-Schein in die Sammelbüchse für die Instandhaltung der Kirche.
Draußen tobte mittlerweile ein ausgewachsener Schneesturm. Pulvrige
kleine Schneeflocken verfingen sich in ihren Haaren, von ihren glatten
Weitere Kostenlose Bücher