Soljanka (German Edition)
fuhr er fort: »Ein Mensch wie Dembski,
skrupellos und perfekt vernetzt, wie man das heute wohl ausdrücken würde,
verfügte über ein Maß von Kontrolle über das Leben in Waren, wie es sich
Außenstehende kaum vorstellen können. So etwas hört nicht von heute auf morgen auf.
Auch nach der Wende saßen an allen möglichen Schaltstellen Menschen, die er in
der Hand hatte. Nicht von ungefähr ist es ihm auch unter den neuen
Verhältnissen gelungen, so glänzend im Geschäft zu bleiben.«
»Sie meinen vermutlich die Abwicklung des Mastbetriebs in
Neustrelitz«, hakte Stamm ein.
»Davon haben Sie also gehört. Ja, das ist so ein Beispiel.« Er
sprach nun leiser, sein Blick schweifte über Stamms und Evas Köpfe hinweg zum
Fenster, gegen das nun wieder Schneeflocken getrieben wurden. »Vielleicht wurde
diese Sache Rico zum Verhängnis. Ich habe ehrlich gesagt bis heute nicht
verstanden, wie das alles zusammenhängt. Aber mein Gefühl sagt mir, dass
Dembski ein schnelles Ende der Ermittlungen brauchte, damit sein Geschäft nicht
gestört wurde. Dass ausgerechnet Rico der Sündenbock wurde, ist wohl der
beispiellosen Infamie geschuldet, die diesen Mann seit jeher auszeichnete.«
Stamm warf einen schnellen Blick zu Dagmar Fenten hinüber. Sie saß
immer noch versunken und abwesend im Schaukelstuhl.
»Die Berichte über Dembskis Charakter decken sich, egal wen man
fragt«, sagte Stamm, ungeduldiger als beabsichtigt. »Was mich interessieren
würde: Wie sind Sie mit ihm aneinandergeraten?«
Fenten zeigte keine Reaktion, starrte weiter zum Fenster hinaus.
Stamm war jedoch sicher, dass er ihn verstanden hatte, und wartete geduldig.
Schließlich setzte sich Fenten wieder.
»Ein weites Feld«, murmelte er. »Sagen wir: Ich habe seine Kreise
gestört.« Nun sah er Stamm und Eva interessiert an. »Sie sind noch recht jung.
Wie vertraut sind Sie mit den historischen Zusammenhängen der achtziger Jahre?«
»Sehr grob, was die DDR angeht«, sagte
Stamm.
»Anfang der Achtziger erstarkte die Solidarnosc-Bewegung in Polen.
Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass damit der Ostblock unwiderruflich von
innen zu erodieren begann. Damals konnten wir die Folgen natürlich noch nicht
vorhersehen, aber es gab Menschen, auch in der DDR ,
die hofften, dass diese Widerstandsbewegung nachhaltiger sein könnte als der
Aufstand in Ungarn und der Prager Frühling. In der DDR waren wir in einer zwiespältigen Situation. Einerseits konnten die Menschen,
die es wollten, wie kein anderes Volk im Ostblock an ungefilterte Informationen
herankommen. Wegen des Westfernsehens und weil fast jeder Verwandte hinter dem
Eisernen Vorhang hatte. Andererseits reagierte das SED -Regime
unbelehrbarer und repressiver als die meisten anderen auf
Demokratisierungsinitiativen. Dennoch gab es auch in der DDR überall aufkeimenden Widerstand. Und die
evangelische Kirche spielte dabei eine wichtige Rolle. Eine machtvolle zentrale
Bewegung wie in Polen war in der DDR nicht
möglich. Aber es bildeten sich fast überall kleine Widerstandsnester, und zwar
hauptsächlich in den Kirchen, weil die ein halbwegs geschützter Raum waren.
Auch in Waren gab es Friedensaktivisten. Ich habe ihnen ermöglicht, sich zu
treffen. Das Regime versuchte natürlich, uns zu unterwandern. In manchen
Gottesdiensten saßen mehr Stasi-Leute als Gläubige. Wenn man heute darauf
zurückblickt, kommt es einem grotesk vor. Da war ja kein Aufstand im Gange, das
war im Grunde so unspektakulär … ich möchte sagen harmlos, dass die meisten
Warener vermutlich gar nicht mitbekamen, was sich in ihrer Stadt unterschwellig
abspielte. Es muss so um ’86, ’87 gewesen sein, da kamen wir sogar mit dem
einen oder anderen Vertreter der Partei ins Gespräch, jüngeren Funktionären,
die mit Gorbatschows Perestroika sympathisierten. Da war vor allem der damalige FDJ -Vorsitzende im Bezirk, der vorsichtig das
Ziel verfolgte, die SED weltoffener
auszurichten.«
»Thilo Bach?«, unterbrach ihn Stamm.
»Thilo Bach, richtig. Ich sehe, Sie sind schon recht gut informiert.
Thilo Bach arbeitete daran, den Einfluss von Ulrich Dembski zu beschneiden. Das
war ganz in meinem Sinne. Dembski hatte zwar kein Parteiamt inne, aber jeder
wusste, dass er als graue Eminenz die Fäden in der Hand hielt. Ich teilte zwar
nicht Bachs Hoffnung, dass das SED -Regime auf
sanfte Weise in einen Demokratisierungsprozess geführt werden konnte, aber mir
war klar, dass es wie ein Befreiungsschlag wirken würde, wenn er
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