Soljanka (German Edition)
kleinen, schmalen, grauhaarigen
Frau zurück. Stamm erhob sich, um sie zu begrüßen. Als Eva es ihm nachtun
wollte, bedeutete ihr die Frau, sitzen zu bleiben. Ihr Blick huschte kurz und
professionell über Evas Bauch.
»Dagmar Fenten«, stellte sie sich vor.
»Hans Stamm vom Magazin. Meine Kollegin Eva Vossen.«
»Haben Sie sich ein wenig aufgewärmt?«, fragte Dagmar Fenten. »Das
ist ja ein Wetter für Eisbären da draußen.«
»Wir haben uns allmählich an die Kälte gewöhnt«, sagte Eva. »Bei uns
in Düsseldorf ist es in diesem Winter auch eisig. Na ja, vielleicht nicht ganz
so wie hier bei Ihnen.«
»Wir hatten es aber auch nicht weit«, ergänzte Stamm. »Wir sind im
Hotel Reingard abgestiegen. Kennen Sie es?«
»Oh ja, ein sehr nettes Hotel.«
Der Smalltalk versiegte. Sie setzten sich alle, ein wenig befangen,
Frau Fenten in den Schaukelstuhl, der Pfarrer in den Sessel.
»Ich muss gestehen«, begann Ernst Fenten, »dass wir lange mit uns
gerungen haben, ob wir dieses Gespräch führen sollen. Haben Sie Kinder?«
»Noch nicht«, sagte Stamm mit einem schnellen Seitenblick auf Dagmar
Fenten.
Der Pfarrer ignorierte die Andeutung. »Dann können Sie vermutlich
nicht ermessen, was wir durchgemacht haben. Auch nach so vielen Jahren ist der
Schmerz noch da. Er schlummert gewissermaßen unter einer dünnen Kruste, die es
uns ermöglicht, den Alltag zu bewältigen. Wenn wir diese Kruste aufbrechen,
dann nur, weil wir die leise Hoffnung haben, dass die Wunde danach ein wenig
besser verheilt.« Stamm nickte. »Ich wäre Ihnen deshalb verbunden, wenn Sie uns
zunächst über Ihre Absichten aufklären würden.«
»Das ist schnell geschehen«, sagte Stamm. »Wir würden Ihren Sohn
gern rehabilitieren, wenn unsere Recherchen unser Gefühl bestätigen sollten,
dass er unschuldig war. Wenn nicht, würden wir die Sache auf sich beruhen
lassen. Die Bestätigung der offiziellen Justizakte würde keinen Aufhänger für
einen Artikel im Magazin ergeben.«
»Darf ich fragen, worauf Ihr Gefühl beruht, dass Rico unschuldig an
diesem scheußlichen Verbrechen war? Sie kannten ihn schließlich nicht.«
Stamm berichtete, was sie über die damaligen Ermittlungen
herausgefunden hatten, ohne den Namen von Udo März zu nennen.
»Selbst die Ermittler hatten trotz aller Indizien Zweifel an Ricos
Schuld«, schloss Stamm. »Aber nach allem, was wir erfahren haben, fanden sie
keine Erklärung für einige wichtige Fragen. Eine davon ist: Warum wurde gerade
Rico als Sündenbock ausgewählt? Eine zweite: Warum hat er, als schon gegen ihn
ermittelt wurde, ein falsches Alibi angegeben?«
Ernst Fenten sprang auf und lief im Zimmer hin und her. »Wer sagt
Ihnen, dass Rico tatsächlich ein falsches Alibi angegeben hat?«, fragte er.
»Nun, ich weiß nicht«, sagte Stamm. »So stand es wohl in der Akte.«
»Die Akte!«, rief Fenten verächtlich. »Ich frage Sie: Was ist eine
solche Akte wert? Eine Akte, die von Leuten angelegt wurde, die ihr Geschäft in
einem System aus Manipulation und Lügen betrieben haben.«
Stamm setzte an, um darauf hinzuweisen, dass zumindest Udo März, der
immerhin die Ermittlungen geleitet hatte, seinen Beruf nicht in diesem System
gelernt hatte. Doch ein Blick auf Dagmar Fenten ließ ihn innehalten. Sie saß
zusammengekauert in ihrem Schaukelstuhl, blickte zu Boden und schien in
Gedanken weit weg zu sein.
»Und was Ihre erste Frage betrifft«, fuhr Ernst Fenten energisch
fort, »so liegt das doch auf der Hand. Wir waren doch so etwas wie das
Feindbild Nummer eins für Ulrich Dembski. Dass er unseren Sohn da hineingezogen
hat, war seine späte Rache dafür, dass wir seine Kreise schon in DDR -Zeiten gestört haben. Ich weiß nicht, ob Sie davon
gehört haben, aber wir waren das, was man in unserer durch Etikettierungen
vereinfachten Medienwelt Regimekritiker nannte. Vor der Wende hat es Dembski
nicht geschafft, uns auszuschalten. Das ist ihm zynischerweise erst nachher auf
infamste Weise gelungen.«
»Sie glauben, dass Dembski Einfluss auf die Ermittlungsarbeit
genommen hat?«, fragte Stamm vorsichtig.
Der Pfarrer sah ihn an, als habe Stamm Zweifel angemeldet, dass zwei
plus zwei vier ergebe.
»Natürlich hat er Einfluss genommen«, sagte er, indem er Stamm mit einem
kalten Blick musterte. »Schon allein, dass dieser Josef Müller als Kronzeuge
gegen unseren Sohn auftrat. Dembskis bevorzugter Scherge in den Jahren der
Unterdrückung. Sie haben wohl nicht in der DDR gelebt!?« Ohne eine Antwort abzuwarten,
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