Soljanka (German Edition)
befragt
und unter Druck gesetzt worden. Es ist keineswegs klar geworden, wie der Abend
gelaufen ist. Schauen Sie, es war Volksfest, die Jungen hatten getrunken,
niemand erinnerte sich auf die Minute genau, wer wann wo war. Es war für ausgebuffte
Polizisten mit Sicherheit nicht schwer, Verunsicherung zu säen. Der Punkt ist
aber doch: Warum haben sie das überhaupt getan?«
»Na, ich nehme an, weil plötzlich Josef Müller auftauchte und
behauptete, er habe Rico woanders gesehen, als dieser angegeben hatte.«
»Eben«, rief Fenten triumphierend. »Müller hat Rico belastet, und
die Freunde meines Sohnes haben sich einschüchtern lassen. Weswegen ich ihnen
nicht einmal einen Vorwurf machen kann, sie waren diesen Typen einfach nicht
gewachsen.«
»Sie selbst hatten keinen Zweifel, dass die Angaben Ihres Sohnes
stimmten?«, fragte Stamm. Er sah Dagmar Fenten an, die immer noch wie
unbeteiligt im Schaukelstuhl kauerte. »Sie sagten ja selbst«, sein Blick
wanderte wieder zum Pfarrer, »dass die Jungs getrunken hatten … Da ergeben sich
manchmal Entwicklungen … zum Beispiel gruppendynamischer Art …«
»Nein«, sagte Fenten brüsk. »Erstens hat Rico nicht viel getrunken.
Er vertrug Alkohol vom Kreislauf her nicht besonders. Ihm wurde schlecht, bevor
er betrunken war. Und er war auch nicht anfällig für gruppendynamische
Prozesse, worauf Sie auch immer mit Ihrer Andeutung hinauswollen. Rico war …«
Er konnte nicht weitersprechen. In seinen Augen glitzerten Tränen. Er wandte
sich ab. Nur am leichten Zittern seiner Schultern konnte man erahnen, dass er
weinte. Der Ausbruch dauerte jedoch nicht lange. Fenten drehte sich wieder um
und sah Stamm eindringlich an. »Rico war einfach ein anständiger Junge.«
»Der ganz große Durchbruch war’s nicht, oder?«, fragte Eva,
während sie sich im Hotelzimmer die Jacke auszog.
»Nein.« Er nahm ihr die Jacke ab und hängte sie zusammen mit seiner
eigenen an die Garderobenhaken neben der Zimmertür.
Eva ließ sich von seiner Einsilbigkeit nicht aufhalten. »Du glaubst
nicht an die Variante mit der suggestiven Befragung.«
»Zu viel Verschwörungstheorie«, brummte Stamm. Er ließ sich in einen
Stuhl fallen und öffnete eine der Bierflaschen, die er von der Rezeption mit
hochgebracht hatte. »Damit kannst du alles erklären«, fuhr er fort und trank
einen Schluck. »Und nichts. Du hast ja Udo März selbst erlebt. Ein Polizist der
alten Schule. Ein erfahrener Bulle wie er kalkuliert die Unzuverlässigkeit von
Zeugen mit ein. Er gehörte auch ganz sicher nicht zu Dembskis Seilschaft. Wenn
er sagt, Rico hat sich in Widersprüche verstrickt, dann kann man wohl getrost
davon ausgehen, dass es so war.«
Eva zog sich die Stiefel aus. Dann setzte sie sich ins Bett und zog
die Decke über ihre Beine. »Meinst du, Rico könnte doch der Täter gewesen
sein?«
»Natürlich könnte er es gewesen sein. Ich glaub’s allerdings immer
noch nicht.«
»Ein anständiger Kerl macht so was nicht.«
Stamm lächelte. »Die Einschätzung haben wir immerhin nicht nur vom
Vater. Von ihm allein hätte mir das auch nicht gereicht, muss ich zugeben.«
Eva lehnte sich zurück und betrachtete eine Weile versonnen den
Stuck der Zimmerdecke. »Ich hätte ja auch gern gehört, was die Mutter zu der
ganzen Sache sagt«, murmelte sie schließlich müde. »Aber ich habe mich nicht
getraut zu fragen. Es war irgendwie … ich komm jetzt nicht auf das richtige
Wort … irgendwie komisch, wie sie die ganze Zeit dasaß …«
»Beklemmend«, nuschelte Stamm. Er nahm noch einen Schluck Bier.
»Das war’s. Beklemmend. Und dann diese egozentrische Nummer ihres
Mannes. Irgendwie ging es die ganze Zeit nicht um den Jungen, sondern nur um
sein Widerstandsding. Ich will ihm ja nicht absprechen, dass er seinen Sohn
geliebt hat, dass er trauert. Aber durch den andauernden Bezug zu seinem Status
als Regimekritiker kommt einem alles, was er sagt, irgendwie verzerrt vor.
Jedenfalls ging es mir so.«
Stamm nickte. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass es mit seinem
Rebellentum ja auch nicht gar so weit her war. Ich sag ja:
Verschwörungstheorie. Da bleibt kein Raum für die vielen Verästelungen, die das
Leben so bereithält. Wobei ich im Fall von Dembski andererseits nicht
ausschließen will, dass es einfach ein primitiver Racheakt war. Das Problem
ist, dass wir nicht weiterkommen, solange es da keinen handfesten Beweis gibt.«
»Was wirst du nun tun?«
Stamm trank die Flasche aus. »Keine Ahnung. Ich muss
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