Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
lange Odus denken konnte, war der Laden noch nie einen ganzen Tag lang geschlossen gewesen. Er hatte im Krankenhaus angerufen, um sich nach Sarahs Zustand zu erkundigen, doch die Schwester hatte sich hin- und hergewunden und ihm irgendwas von Privatsphäre und ärztlicher Schweigepflicht erzählt, bis Odus gesagt hatte, er sei Sarahs Sohn. Dann hatte er endlich erfahren, dass Sarahs Zustand stabil war und dass sie über Nacht zur Beobachtung dableiben sollte.
Jenseits des Flusses lagen noch ein paar alte Schienen der alten Virginia Creeper Eisenbahnlinie. Sie gehörten zu den wenigen, die bei der Flut von 1940 nicht davongespült worden waren. Über ihnen wucherte das Unkraut. Die geteerten Bohlen waren längst verrottet, und auch die stählernen Schienen wären unter einer Pflanzendecke verschwunden, wenn die Touris die alte Eisenbahnstrecke nicht zum Wanderweg umfunktioniert hätten.
Touristen waren die armseligsten Kreaturen unter der Sonne. Die hässlichsten Schandflecke von Solom – so wie eingefallene Scheunen und vom Blitz getroffene Apfelbäume – erklärten sie zu Glanzstücken der Schöpfung. Sie machten Fotos und kauften Ansichtskarten, quetschten ihre fetten Florida-Ärsche in die engen Sitze teurer Sportwagen und radelten über die Straßen am Fluss, als hätten sie kein Ziel und den ganzen Tag Zeit.
Wenn es nach Odus ginge, hätten sie alle zur Hölle fahren können. Doch ihn fragte ja niemand. Er war nur eine besoffene Flussratte ohne Besitz. Er wohnte im Untergeschoss eines Ferienhauses und kümmerte sich um den Garten, dafür brauchte er keine Miete zu bezahlen.
Doch weiß Gott, er war ein begnadeter Angler. Im Oktober konnte er einen Zehnender zur Strecke bringen, und wenn der Frühling kam, konnte er mindestens ein Dutzend verschiedene Kräuter auf Wiesen und Feldern sammeln. Im Sommer wusste er, wo man den besten Ginseng fand. Und schon war es wieder Herbst, und er half hier und da bei der Heuernte oder brachte das Vieh der Bauern zum Schlachter. Eigentlich hatte er den Himmel auf Erden, und er war niemandem zu etwas verpflichtet. Na ja, wenn man mal das Paar aus Pennsylvania außer Acht ließ, in dessen Haus er wohnte, und Gordon Smith, und die Leute, die ihm Geld geliehen hatten.
Die Sonne sank ein Stück tiefer und goss orangefarbenes Licht über die geriffelten Wolken, wie Ahornsirup, der über knusprige Waffeln fließt. In der Dämmerung bissen die Fische meist besser, denn dann schwirrten mehr Insekten umher, von denen sie sich ernährten. Auch viele Touristen fanden das Fliegenfischen toll. Eine komplette Ausrüstung mit Watstiefeln, Outdoorjacke, Anglermütze und Korb kostete mehr als 300 Dollar in dem kleinen Laden oben an der Straße, wo man Kajaks, Kanus, Fahrräder, Reifenschläuche und sämtlichen anderen nutzlosen Kram mieten konnte, den die Menschen zur Fortbewegung nutzten. Odus fand dafür nur eine Erklärung: Die Touris mussten wohl alle eine kleine Rechenschwäche haben, denn egal, wie viele Nullen ihr Kontostand hatte – für 300 Dollar konnte man mehr Forellen kaufen, als man in einem Jahr essen konnte.
Aber darüber brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Odus wollte nur noch schnell eine Forelle fangen, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte, um sich ein spätes Abendessen reinzuhauen. Am Getreidefeld von Lucas Eggers würde er kurz anhalten und ein paar Ähren zum Rösten mitnehmen. Dazu ein paar Steckrübenblätter aus dem Garten, das musste reichen, um seinen knurrenden Magen zu füllen.
Er leerte die Flasche Old Crow und wollte gerade mit einem Millers nachspülen, als er sah, wie sich das Unkraut am anderen Flussufer bewegte. Die leuchtend roten Blüten des Purpur-Wasserdosts wiegten sich hin und her. Irgendetwas schien sich seinen Weg zum Wasser zu bahnen. Wahrscheinlich ein Reh oder so. Wie die Fische wurde auch das Wild in der Dämmerung aktiv. Aber das Wild folgte meistens einem festen Pfad, anstatt sich durchs Gebüsch zu schlagen. Odus lockerte die Angelschnur und wartete, was da wohl gleich am Ufer erscheinen würde. Er hatte kein Gewehr dabei, also konnte er das Reh eh nicht abschießen, und so war es ihm auch herzlich egal, ob es ein Reh sein würde oder ein Außerirdischer. Hauptsache es war kein Naturschutzbeauftragter, der ihn wegen Angelns ohne Angelschein zu einer Strafe verdonnerte.
Zuerst dachte er wirklich für einen kurzen Moment, dass es ein Naturschützer oder so etwas war, denn was da zwischen den Stängeln hervorlugte, sah aus
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