Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
herunter.
Die Ziege senkte den Kopf und ging zwei Schritte auf den Ofen zu. Sie hatte kleine Stummelhörner, wahrscheinlich eine Einjährige. Manchmal wurden Ziegen störrisch und stießen mit den Hörnern, aber in der Regel legten sie sich nicht mit Menschen an. Außer, wenn es ums Essen ging. Sah so aus, als ob es diese Ziege unbedingt auf den Süßkartoffelauflauf abgesehen hatte.
Betsy versuchte noch einmal, die Ziege mit ihrer Schürze zu verscheuchen. Dann stellte sie sich zwischen das Tier und den Ofen. Eigentlich war ihr klar, dass die Ziege die Ofentür niemals aufkriegen würde, doch auf seltsame Weise wollte sie ihr Eigentum vor diesem Vieh schützen. Schließlich war das hier immer noch ihre Küche. »Jetzt scher dich fort!«
Die Ziege glotzte sie an, mit kalten, seltsamen Augen. Dieser Blick gefiel ihr gar nicht. Aus ihnen leuchtete der Hunger, der Ziegen seit dem Garten Eden innewohnte. Doch dahinter lag etwas Bösartiges. Als ob die Ziege eine gemeine Ader hätte und nur auf einen passenden Grund wartete.
»Arvel!« Mittlerweile war es Betsy egal, ob ihr Mann ihr Verhalten angemessen fand oder nicht. Es passiert nicht so oft, dass eine Ziege in die Küche marschiert kam. Sie hatte drei Fehlgeburten hinter sich, die Dürre von 1989 überstanden, den schlimmen Schneesturm von 1960 und das Hochwasser 2004. Sie kannte sich aus mit schweren Zeiten, und sie wusste, wie man einen kühlen Kopf bewahrte. Aber das hier war etwas Anderes. Mit Naturkatastrophen konnte sie umgehen, doch das schien irgendwie unnatürlich. Als würde die Ziege mehr im Schilde führen, als nur ihren selbstgebackenen Auflauf zu zerstören.
Arvel betrat die Küche in dem Moment, als die Ziege gerade zum Angriff übergegangen war. Betsy hatte die Hände schützend nach vorn gestreckt, in der Hoffnung, das Tier dadurch von sich fernzuhalten, doch es preschte schon mit seinen gespaltenen Hufen über den Kunststoffboden. Die drei Meter, die sie trennten, waren schnell überwunden. Betsy sah, wie sich ihr Bild in den seltsam geformten Pupillen des Tieres spiegelte. Ihr Mund stand offen, vielleicht schrie sie auch, und ihre Haare hingen in wilden, fettigen Strähnen um ihr Gesicht. Sie hatte keine Zeit mehr auszuweichen, selbst wenn ihre Beine ihr gehorcht hätten.
Die Ziege traf sie von unten, kurz über ihrer Scham, und stieß ihr in den Unterleib. Die Hörnerstummel kratzten wie zwei dicke, stumpfe Nägel, nicht scharf genug, um sie aufzuschlitzen, aber dennoch äußerst schmerzhaft. Die unerwartete Wucht des Aufpralls brachte sie aus dem Gleichgewicht, und sie spürte, wie sie nach hinten fiel. Einen halben Herzschlag lang sah sie, wie sich die Zimmerdecke wild vor ihren Augen drehte, dann nahm sie ein flackerndes, gleißendes Licht wahr, die Kupferpfannen über der Spüle, die verschnörkelten Muster des Stucks an der Decke.
Dann sank sie zu Boden, und die Welt um sie herum explodierte in unzähligen Funken. Sie dachte, vielleicht sei die Füllung des Auflaufs auf die Heizspirale getropft. Bevor sie die nachtschwarze Dunkelheit umgab, stieg ihr der Duft warmer Süßkartoffeln in die Nase wie der Atem eines wohlgenährten Babys.
»Der Auflauf ist fertig«, brachte sie gerade noch heraus, bevor ihre Augenlider flatternd zufielen. Danach war alles still.
18. KAPITEL
Odus schwenkte mit seinem Pick-up auf dem Schotterhof der Baptistenkirche ein und parkte neben dem Ford F-150 von Mose Eldreth. Wahrscheinlich reparierte der Prediger gerade irgendetwas in der Kirche, vielleicht ein kaputtes Geländer oder das Ofenrohr. Durch die offene Tür schimmerte ein schwaches Licht. Die Kirchenfenster hoben sich wie blassgelbe Vierecke vom Nachthimmel ab. Odus warf einen bangen Blick auf das Grab von Harmon Smith, doch der weiße Grabstein ließ im schwachen Schein der Sterne keinen Unterschied zu den anderen erkennen.
Odus hatte mit den Predigern der Free Will Baptisten nicht viel am Hut, aber wenigstens war Mose Eldreth von hier. Er kannte die Geschichte des Ortes, und wie alle, die in Solom aufgewachsen waren, wusste er natürlich auch von der Sache mit Harmon Smith. Außerdem stand Harmons Grabstein auf dem Friedhof der Free Will Baptisten. Was nicht hieß, dass der Prediger mit Odus darüber reden würde. Wie Sarah Jeffers wollten sie meisten Leute lieber nicht zu viel mit der Vergangenheit zu tun haben.
Odus ging die Stufen hoch und klopfte an die Tür. »Pfarrer, sind Sie da?«
Er hörte ein kratzendes Geräusch, das
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