Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
begann langsam zu erlöschen. Carolyn war heilfroh, dass sie endlich am Bach waren. Nicht nur, weil er das erste vertraute Zeichen war, das sie wiedererkannte – es war wirklich der Bach, den sie vorhin überquert hatten. Sondern auch, weil das Rauschen des Wassers die Geräusche der Schritte überdeckte, die ihnen in kurzer Entfernung folgten.
»Der Bach. Hab ich doch gesagt!« Elliott leuchtete mit der Lampe in Carolyns Gesicht. Sie musste nicht einmal die Augen zusammenkneifen, so schwach war das Licht schon. »Bleibt die Frage: Folgen wir dem Wasser oder bleiben wir auf dem Weg?«
Carolyn musste sich die Bemerkung verkneifen, warum er sie jetzt endlich mal nach ihrer Meinung fragte, jetzt, wo die Situation auf dem Tiefpunkt der Hoffnungslosigkeit angelangt war. Stattdessen erlaubte sie ihm, sich wenigstens ein Fünkchen Stolz zu bewahren. Schließlich würde es ein Morgen geben, und die Strategie einer Ehe war vergleichbar mit der Demokratie: Jede Partei bekam ihre Chance. Und das Pendel der Gerechtigkeit würde für den Rest des Urlaubs ganz eindeutig nach ihrer Seite ausschlagen.
In den Appalachen gingen Menschen nicht einfach verloren und starben. Schließlich war überall Zivilisation. Das passierte vielleicht im Yellowstone-Nationalpark, wo die Grizzlys umherstreiften, oder im Arctic Wildlife Refuge mit seinen plötzlichen Schneestürmen und Temperaturstürzen. Das Schlimmste, was ihr hier passieren konnte, war eine gruslige Nacht im Wald, mit Müsliriegeln zum Abendbrot und einem mürrischen Ehemann.
Nur leider wurden sie verfolgt. Da konnte Elliott ihr viel erzählen.
»Wir sollten nicht am Bach entlang gehen«, sagte sie. »Sieht aus, als ob die Rhododendronbüsche dort unten immer dicker werden, und die Steine sind bestimmt rutschig. Wenn einer von uns hinfällt und sich den Knöchel bricht, dann haben wir ein echtes Problem.«
»Da hast du recht.«
Und wieder ging ein Punkt an sie. Aber in Wirklichkeit glaubte Carolyn gar nicht, dass der Bach gefährlich sei. Vielmehr hatte sie Angst, dass sie durch das Rauschen des Wassers die Schritte hinter sich nicht mehr hören würde. »Wir könnten doch die Räder einfach hier stehen lassen«, sagte sie. »Wir können eh nicht damit fahren, und ohne Räder sind wir schneller.«
»Aber wir haben eine Kaution dafür bezahlt.«
»Wir können morgen zurückkommen und sie holen, wenn wir wissen, wo wir sind.«
»Ich weiß, wo wir sind. Ich bin schließlich Ingenieur!«
»Ergo.« So böse sollte ihre Antwort eigentlich gar nicht klingen, aber ihr war kalt, ihr tat der Hintern weh von diesem blöden Rennradsattel, ihre Waden schmerzten, und die Äste hatten ihr das Gesicht und die Arme zerkratzt. »Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Das hier ist kein verdammter Schaltkreis oder irgendwas, was man mit einer quadratischen Gleichung lösen kann!«
Elliotts Pupillen wurden so groß, dass sie gleich doppelt so viel Licht von der Taschenlampe reflektierten. Es war, als ob sie ihn mitten ins Gesicht geschlagen hätte. Eine Sekunde lang genoss sie ihren Sieg, dann beschloss sie, die Sache zu Ende zu bringen. Sie nahm ihm die Kugelschreiberlampe aus der Hand und richtete den Lichtstrahl auf die Bäume und das Unterholz. Fast fühlte sie sich wie Luke Skywalker, wie er die Sturmtruppen des Imperiums mit seinem Lichtschwert zu Boden streckt.
»Ich habe gehört, wie uns etwas gefolgt ist, und ich habe verdammt noch mal eine Scheiß-Angst!« Seit ihrer Zeit bei Brown hatte sie nicht mehr zwei Schimpfwörter im selben Satz gebraucht. So fühlte sich wohl Frauenpower an. Es war beängstigend. Sie würde jederzeit das Gefühl der Macht gegen das Gefühl der Sicherheit eintauschen. Doch sie spürte, dass sie diese Wut und das dadurch freigesetzte Adrenalin brauchte, wenn sie sie beide sicher aus diesem Chaos herausbringen wollte.
»Okay, okay, beruhige dich«, sagte Elliott. Der väterliche Unterton war nicht mehr so vordergründig, aber noch hörbar. »Du hast recht. Wir lassen die Räder hier stehen und bleiben auf dem Weg. Wir überqueren den Bach und verstecken die Räder dort im Gebüsch. Dann laufen wir weiter.«
»Gut.« Sie zitterte und wusste nicht, ob ihre Aufregung vom kühlen Nebel am Bach herrührte oder von ihrer Angst. Sie hielt die Lampe und Elliot schob sein kaputtes Fahrrad durch das Wasser. Er setzte seine Schritte mit Vorsicht auf die glitschigen Steine, damit seine Schuhe nicht nass wurden. Dann schlürfte er durch den schwarzen Uferschlamm auf
Weitere Kostenlose Bücher