Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
der anderen Seite und stand über ihr, verloren im dunklen Gewirr aus Bäumen und Schlingpflanzen.
»Komm rüber, Carolyn. Ich sehe nicht die Hand vor Augen.«
Sie drehte sich noch einmal um, in der bangen Erwartung, einen wütenden Schwarzbären, einen Rotwolf oder vielleicht sogar einen Puma hinter sich zu sehen. Dann bahnte sie sich ihren Weg über die Steine und kletterte die Uferböschung hoch. Einmal rutschte sie aus und ging in dem ekligen Schlamm, der nach Eidechsen roch, in die Knie. Elliott packte sie am Oberarm und zog sie wieder auf festen Boden. Dann nahm er ihr Fahrrad und schob es ins Gebüsch.
»Willst du was essen?«, fragte er. »Einen Energy-Riegel vielleicht?«
»Ich will nur schnell raus hier.«
»Komm, wir schauen uns noch einmal die Karte an.«
Carolyn nickte und gab ihrem Mann die Lampe. Sie hatte die Fackel weitergereicht – im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Aber das war ihr egal. Wenn sie ehrlich war, war sie den Tränen nahe. So viel zum Thema Frauenpower – mit Margaret Thatcher oder Hillary Clinton konnte sie es noch lange nicht aufnehmen.
Sie gingen ein Stück weg vom Bach und setzten sich um den Schein der Taschenlampe, als wäre sie ein batteriebetriebenes Lagerfeuer. Irgendwo über ihnen war der Mond aufgegangen, doch die Wipfel der Bäume zerrissen seinen beruhigenden Schimmer in ein Angst einflößendes Netz aus wirren Lichtfetzen. Als Elliott die Karte studierte, hörte Carolyn wieder das Rascheln der Blätter.
»Hast du das gehört?«, fragte sie. Ihr Herz fühlte sich an wie ein hölzerner Knoten in ihrer Brust.
»Das war nur der Wind. Oder ein Waschbär.«
»Heute geht gar kein Wind. Und Waschbären werden niemals so groß.« Vor Carolyns geistigem Auge erhob sich ein riesiger, mannshoher Waschbär auf seinen Hinterbeinen. Unter seiner Bankräubermaske funkelten zwei wilde gelbe Augen. Normalerweise hätte sie diese Vorstellung zum Lachen gebracht, zumindest ganz leise. Stattdessen verschärfte sich die Spannung in ihrem Inneren. Und dann musste sie plötzlich auch noch pinkeln. So ein Mist!
Die Vorstellung, ihre Nylonshorts herunterzulassen und sich im Dunkeln hinzuhocken, gefiel ihr gar nicht. Damit machte sie sich nur noch verletzbarer für was auch immer dort draußen auf sie wartete.
»Also, wenn wir hier sind und in der Stunde fünf Kilometer schaffen, dann müssten wir gegen elf an der Hauptstraße sein. Dort finden wir bestimmt ein Haus, von wo aus wir ein Taxi oder so rufen können.«
Die Vorstellung, an eine fremde Tür zu klopfen, war fast so Angst einflößend wie ihre Verfolger. »Ich glaube nicht, dass es hier Taxis gibt.«
»Na dann eben die Polizei. Oder das Büro von Happy Hollow.«
Elliott hatte offensichtlich auch Angst. Sonst hätte er nie zugegeben, dass er einen Fehler gemacht hatte. Dass Carolyn von seinem Versagen wusste, war die eine Sache. Das könnte er in der nächsten Woche leicht überspielen und sie glauben machen, dass es ihre Schuld gewesen war, dass sie sich verlaufen hatten. Doch nun war er bereit, vor einem Polizisten oder der Hüttenvermietung zuzugeben, dass er ohne Respekt vor der Natur im Wald umhergestreift war, dass dieses moderne Märchen von James Fennimore Cooper nicht gut für ihn ausgegangen war und dass ein Yankee-Ingenieur, der sogar einen eingebauten Taschenrechner in seiner Armbanduhr hatte, sich in den uralten Bergen nicht zurechtfand. Carolyn konnte diesen Triumph kaum erwarten, selbst wenn das hieß, dass er so lange sauer auf sie sein würde, bis sie wieder zurück in White Plains waren.
Vor allem aber konnte sie es nicht erwarten, endlich wieder eine Straßenlampe zu sehen.
Denn das Geräusch war wieder da. Und es war noch näher. Es kam jetzt von rechts.
»Hast du das gehört?«
»Nein.« Er sagte es fast trotzig, als ob er es vor sich selbst nicht zugeben wollte.
»Es kommt näher.«
Im schwachen Schein der blassgelben Lampe verzerrte sich sein Gesicht. »Hör mir mal zu, Carolyn. Wir sind hier verdammt noch mal im 21. Jahrhundert, nicht bei ›Blair Witch Project‹. Im echten Leben werden Menschen nicht einfach von wilden Kannibalen aus den Bergen aufgefressen oder von wilden Tieren angefallen. Und letztens habe ich gehört, dass auch die Außerirdischen keine geheime Landestation in den Appalachen haben. Ergo verfolgt uns auch nichts. Nun lass mich endlich versuchen, das kleine Problem, das du verursacht hast, wieder in den Griff zu kriegen, damit wir wieder sicher in den Schoß
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