Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Odus die Mandoline. Er war sogar auf einigen regionalen Platten zu hören, doch vor Publikum aufzutreten war nicht sein Ding.
Sarah schaute von der Kasse auf und blickte ihn ernst an. Er nickte ihr fast unmerklich zu, was so viel bedeutete wie: »Wir reden später.«
Sarah widmete den Kunden ihre volle Aufmerksamkeit. Sie lächelte sie an, als ob sie sie nicht nur wegen ihres Geldes mochte. Ein Sechserpack Limonade, zwei Tassen überteuerter Kaffee, ein Burrito aus der Mikrowelle, ein Stück Honigkuchen, eine Flasche Sonnencreme, ein nostalgisches Vogelhäuschen, ein Weidenkorb, ein paar Doc Watson CDs und zwei Tüten saure Gummischlangen gingen noch über den Ladentisch, bevor Sarah endlich eine Pause einlegen konnte. Sie schnappte sich ein Staubtuch, kam hinüber zum Sandwichregal und begann, die feuchten Glasböden zu putzen.
»Ich hab mir ziemliche Sorgen um dich gemacht«, sagte er.
»Mach dir mal wegen mir keine Gedanken!«
Normalerweise würde Odus das auch nicht tun. Sarah Jeffers war zäher als Rindfleisch und hatte die Verfassung eines Pumas. Doch Zähigkeit und Fitness halfen nicht, wenn man es mit etwas zu tun hatte, das es eigentlich gar nicht gab. Odus zermalmte das Ende seines Zahnstochers, als er sprach. »Ich hab ihn gesehen.«
»Wen?«, fragte Sarah und schien plötzlich außerordentlich interessiert an einem Stück Leberwurst. Odus konnte sich nicht vorstellen, wie jemand so etwas essen konnte. Mortadella war ja noch okay, doch er stand eher auf richtiges Fleisch, zum Beispiel Schinken. Es musste noch genau so aussehen, wie wenn es zum Tier gehörte.
»Wir wissen beide, wen ich meine«, antwortete er.
Eine braungebrannte, schlanke blonde Frau trat an die Kasse. Ihre Zöpfe waren mit rosa Schleifchen zusammengebunden. Auf ihrem T-Shirt stand »This dog don’t hunt«. In ihren Händen hielt sie ein hübsches Trockenblumengesteck und eine kleine Kirche aus Holz. Wahrscheinlich Deko für ihr Ferienhäuschen. Sarahs Züge entspannten sich, als sie zur Kasse ging.
»Sind Sie hier der Erzähler?«, sprach ihn eine Stimme von hinten an.
Er drehte sich um und sah einen Mann mit Sonnenbrille, der eine Videokassette hochhielt. Auf dem Cover war Odus abgebildet. Er trug sein ländliches Traditions-Outfit: Jeans-Latzhose und kariertes Hemd. Für das Foto hatte er sich extra einen ausgefransten Strohhut ausgeliehen, weil die Frau von der Uni gesagt hatte, dass die Verpackung »authentisch« sein sollte. Von Marketing hatte Odus nicht die geringste Ahnung, aber er kannte Geschichten aus acht Generationen.
In der Familie Hampton waren die sogenannten »Jack-Sagen« überliefert worden, in denen Jack meist dem König ein Schnippchen schlug. Die bekannteste dieser Geschichten war »Jack und die Bohnenstange«, auch wenn darin kein König vorkam. Die Frau von der Uni hatte gesagt, dass diese Sagen Gleichnisse waren, mit denen sich die Siedler aus Schottland und Irland, die sich in den südlichen Appalachen niederließen, an ihren englischen Unterdrückern rächten. Odus fühlte sich zwar nicht wirklich von den Engländern unterdrückt – außer vielleicht damals, als sich alle Augen auf Diana richteten, nachdem sie bei diesem Autounfall ums Leben gekommen war – aber er dachte, dass die Tante von der Uni sich mit solchen Sachen bestimmt besser auskannte als er.
»Ja, ich hab darauf die eine oder andere Story erzählt«, sagte Odus. Das Video trug den Titel: »Die Stimme der Berge«.
»Dann sind Sie also ein Star!« Der Mann aß gerade ein Nutty Buddy Stieleis. Das Eis lief ihm über die Hand, er leckte es einfach ab.
»Nicht ganz. Ich hab nur bisschen geredet. Die Arbeit hatte die Frau, die den Film gemacht hat.« Odus guckte rüber zu Sarah. Sie nahm gerade das Geld entgegen für ein Geehaw Whimmy-Diddle, ein altes traditionelles Spielzeug, das im Grunde nur aus drei Stäben und einem winzigen Nagel bestand. Verkaufspreis sechs neunundneunzig plus Mehrwertsteuer.
»Treten Sie mit diesen Geschichten auch auf? Wir gehen zwei Wochen in die Berge und würden so gerne ein paar echte Sagen aus den Appalachen hören.«
»Die sind eh alle nicht wahr. Ist alles gelogen«, meinte Odus.
Der Mann lachte. Dabei flog ihm ein Erdnusskrümel aus dem Mund, das direkt neben Odus’ Fuß auf dem Boden landete. »Das klingt gut! Ich nehm den Film mal mit. Bin sicher, dass er mir gefallen wird. Wenn Sie keine Vorstellungen geben, kann man Sie dann vielleicht für einen Abend am Lagerfeuer buchen?«
Der Schweiß
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