Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
einen Anspruch auf dieses steinige Land voller uralter Legenden hatte, dann waren es Wesen wie der Wanderprediger, die nicht an Zeit und Raum gebunden waren, losgelöst von den bedauernswerten Sorgen der Sterblichen.
Unsichtbare Zweige zerrten an Odus’ Händen, ledrige Blätter klatschten in sein Gesicht. Er ruhte sich einen Moment aus und blinzelte durch das Blätterdach auf die vereinzelten Sterne am Himmel. Der Schein des Mondes beruhigte ihn ein wenig.
»Gott, wenn Du da oben wohnst, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, mir ein bisschen Hilfestellung zu leisten«, sagte Odus. Schon als das Gebet seine Lippen verließ, hörte es sich blöd an. Warum sollte Gott sein Gehör einem Mann schenken, der seit zwei Jahrzehnten keinen Fuß mehr in die Kirche gesetzt hatte? Der seit der Christenlehre in der Kirche der Free Will Baptisten nicht mehr in die Bibel geschaut hatte? Und der seit dem Tag, als Priester Blackburn seinen Kopf in das eiskalte Wasser von Rush Branch getaucht und ihn von allen Sünden freigesprochen hatte, keine einzige spirituelle Regung mehr verspürt hatte?
Dennoch mochte sein Stoßgebet etwas bewirkt haben. Vielleicht traf es auch nur zufällig mit einem ganz irdischen Vorfall zusammen. Doch das machte keinen Unterschied, wenn man die Fantasie mal beiseite ließ und zur Sache kam.
Durch die Zweige vor seinen Augen brachen schmale Lichtstrahlen. Die Blätter filterten den Schein, doch es war ein starkes Licht, das gegen die erstickende Dunkelheit vorstieß und einen Hoffnungsschimmer verbreitete. Odus ging darauf zu. Sein Schritt war jetzt fester, denn er erkannte die schwarzen Umrisse der Bäume und musste sich seinen Weg nicht mehr durch eine unbekannte schwarze Masse bahnen.
Als das Licht stärker wurde, hörte er auf einmal Stimmen, und er erkannte sogar eine von ihnen: Es war Sarah vom Tante-Emma-Laden! Was zum Teufel hatte eine 70-Jährige mitten in der Nacht auf dem Kamm des Verlorenen Jochs zu suchen? Das konnte man Odus natürlich auch fragen, und vielleicht würden sie sogar beide dieselbe Antwort geben.
»Hallo«, rief er durch die Bäume.
»Wer ist da?«, fragte Sarah mit brüchiger Stimme.
»Odus.«
»Dann komm da raus und sei froh, dass ich dich nicht gleich mit einer Ladung Schrot begrüßt habe. Man sollte einer Dame nicht im Dunkeln nachstellen.«
»Ich habe niemandem nachgestellt. Ich laufe hier nur rum.«
»Gehört das Pferd dir?«, fragte eine andere Stimme aus der Dunkelheit. Odus ordnete die Stimme Sue Norwood zu, der jungen Frau, die gestern Abend auch bei dem Treffen im Tante-Emma-Laden dabeigewesen war.
Odus ging ihren Stimmen und dem immer deutlicher werdenden Licht der Autoscheinwerfer nach und schlug sich durch das Lorbeergestrüpp. Dann fand er sich auf einer kleinen Lichtung am Ende eines Holzfällerpfads wieder. Er trat in das vertraute Scheinwerferlicht und hielt sich die Hand schützend vor die Augen. Neben dem Jeep stand Sister Mary und schnaubte. Sie warf den Kopf auf und nieder, und Odus wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn auslachte.
»Na ja, eigentlich gehört sie mir gar nicht«, sagte Odus. »Ich habe sie mir sozusagen für eine heilige Mission ausgeliehen.«
»Hier«, sagte Sarah zu Sue, die Sister Mary am Zügel hielt. »Ich bin nicht die Einzige, die hier was am Kopf hat. Der ganze verdammte Ort dreht durch, wenn Harmon Smith auftaucht.«
»Schien das einzig Richtige zu sein«, wandte Odus ein. »Wenn man eine Stimme hört, stellt man dann dumme Fragen oder folgt man ihr einfach und tut, was zu tun ist?«
»Man folgt der Stimme«, sagte Sue. Odus sah die Axt in ihrer Hand, wie das Schwert eines Kreuzritters.
»Dieser kleine Saustecher kann gegen den Wanderprediger nichts ausrichten«, sagte Odus und bemerkte die Schrotflinte, die Sarah trug. »Und so ein 20 Kaliber Schießeisen wohl auch nicht.«
»Ach ja?«, fragte Sarah. »Und was hast du in deiner Trickkiste, mit der du einen toten Priester zur Strecke bringen willst? Ein Einweckglas mit heiligem Wasser? Eine Steinschleuder und einen Groschen? Oder eine leere Schnapsflasche?«
Odus wurde rot. Er hatte die leere Schnapsflasche in einen hohlen Baumstumpf geworfen, obwohl er kurz daran gedacht hatte, sie als spirituelle Streitaxt einzusetzen. Jetzt erschien ihm diese Idee genauso blöd wie Sues und Sarahs Waffen.
»Blicken wir den Dingen ins Auge«, sagte er. »Wir stochern hier völlig im Dunkeln. Was machen wir jetzt?«
»Warten wir erst mal ab«, meinte Sarah. »Gestern Abend
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