Someone like you - Dessen, S: Someone like you
Chips in den Mund.
»Was meinst du?« Marion schüttelte das Nagellackfläschchen.
»Du weißt schon.«
»Was?«, fragte ich.
Marion hielt prüfend die erste, fertig lackierte Hand vor sich. »Ach, Steve hat eine spezielle Freizeitbeschäftigung. Ein Hobby.«
»Erklär ihr, was es ist.« Scarlett zwinkerte mir zu. Ich ahnte, was auch immer jetzt kam, es war bestimmt ein Knaller.
Marion warf Scarlett einen Blick zu und seufzte. »Er gehört zu einer Gruppe, einer Art historischem Club. Sie treffen sich an den Wochenenden und studieren zusammen das Mittelalter.«
»Interessant«, meinte ich. Scarlett schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging zum Spülbecken. »Ein historischer Club?«
»Marion, jetzt zier dich nicht so.« Scarlett ließ Wasser aus dem Hahn über ihre Hände laufen. »Beschreib mal, was sie in dem Club tatsächlich
tun
.«
|93| »Was? Was macht er da?« Ich platzte fast vor Neugier.
»Er verkleidet sich.« Scarlett kam ihrer Mutter zuvor und antwortete für sie. »Jeder spielt eine Rolle – seine Rolle. Steve hat sozusagen ein mittelalterliches Alter Ego, in das er sich jedes Wochenende verwandelt. Wenn er sich mit seinen Kumpels trifft, ziehen sie Mittelalterklamotten an, machen echte Turnierkämpfe, singen Balladen, essen und feiern Feste wie im Mittelalter.«
»Sie machen keine Turnierkämpfe«, grummelte Marion und fing an, die Nägel ihrer anderen Hand zu lackieren.
»Doch«, widersprach Scarlett. »Neulich Abend habe ich mich ausführlich mit ihm unterhalten. Er hat mir alles genau erklärt.«
»Und wenn schon«, meinte Marion. »Was ist groß dabei? Ehrlich gesagt, ich finde es sogar irgendwie niedlich. Als würde man in einer anderen Welt verschwinden.«
»Wenn ihr mich fragt, ich finde es gaga.« Scarlett kehrte an den Tisch zurück und setzte sich neben mich. »Der Typ hat doch ’ne Macke.«
»Hat er nicht.«
»Weißt du, wie er in seiner mittelalterlichen Rolle heißt?«, fragte sie mich. »Rate mal.«
Ich sah sie an. »Ich habe keinen Schimmer.«
Marion tat so, als hörte sie uns gar nicht, sondern bearbeitete ihren kleinen Fingernagel mit der Feile.
»Vlad«, verkündete Scarlett theatralisch. »Vlad, der Pfähler. Das historische Vorbild für Graf Dracula.«
»Es geht nicht um Graf Dracula«, meinte Marion schnippisch. »Vlad ist auch eine Abkürzung für Vladimir. Ritter Vladimir.«
»Von mir aus.« Scarlett war mit den Freunden ihrer Mutter nie einverstanden; meistens waren es Kerle mit begrenzter |94| Haltbarkeitsdauer, die sich samstags oder sonntags morgens an Scarlett vorbei aus dem Haus stahlen und ihr dabei unbehagliche Blicke zuwarfen.
»Er ist bestimmt sehr nett«, sagte ich vorsichtig. Marion hatte ihr Werk nun auch an ihrer linken Hand beendet und schwenkte sie in der Luft.
»Allerdings«, antwortete sie, stand auf und ging Richtung Treppe; sie hielt ihre Hände vor sich ausgestreckt und bewegte die Finger, damit der Lack schneller trocknete. »Und wenn Scarlett ausnahmsweise mal bereit wäre je mandem eine echte Chance zu geben, würde sie das ebenfalls merken.«
Marion ging die Treppe hinauf. Wir hörten, wie der Fußboden über unseren Köpfen knarrte, während sie durch den Flur in ihr Zimmer lief. Scarlett hob Marions verschmierte Wattebäusche auf, warf sie in den Müll und legte Nagellack und Nagellackentferner in den kleinen Korb bei der Badezimmertür, wo sie hingehörten.
»Ich habe schon vielen Leuten Chancen gegeben«, sagte sie unvermittelt, als wäre Marion noch im Zimmer und könnte sie hören. »Aber irgendwann verliert man einfach das Vertrauen in die Menschheit.«
Von Scarletts Schlafzimmerfenster aus beobachteten wir, wie Steve in seinem Hyundai-Kombi vorfuhr. Er brachte einen Blumenstrauß mit und sah weder besonders blutrünstig noch besonders kriegerisch aus. Galant geleitete er Marion zur Beifahrerseite, hielt ihr die Tür auf und schloss sie behutsam, nachdem sie eingestiegen war. Als sie davonfuhren, stand Scarlett mit dem Rücken zum Fenster und würdigte ihre Mutter, die zu uns hoch winkte, keines Blickes. Doch ich winkte zurück. Dann waren sie weg.
|95| Als ich später nach Hause kam, saß meine Mutter in der Küche und las Zeitung. »Hallo, wie war’s in der Schule?«, fragte sie.
»Okay.« Ich stand in der offenen Küchentür, die Augen bereits fest auf die Treppe gerichtet.
»Wie lief der Mathetest? Meinst du, du hast ihn geschafft?«
»Klar«, sagte ich. »Glaube ich jedenfalls.«
»Die Vaughns kommen heute
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