Someone like you - Dessen, S: Someone like you
Kinder, hektoliterweise Milch, Hunderten von Bananen und unzähligen Zweiliterflaschen Cola light sah ich in der Schlange vor meiner Kasse auf einmal meine Mutter. Sie hielt eine Flasche Wein unterm Arm und blätterte durch eine Zeitschrift; als sie merkte, dass ich sie gesehen hatte, winkte sie mir lä chelnd zu. Meine Mutter war nach wie vor ganz begeistert, wenn sie mich bei der Arbeit sah. Sie fand das irgendwie toll.
Als sie an die Reihe kam, stellte sie die Flasche Wein vor mich hin und sagte fröhlich: »Hallo.«
»Hi.« Ich scannte das Etikett auf der Weinflasche und drückte auf die Taste mit der Aufschrift SUMME.
»Wann hast du heute Abend frei?«
»Um sechs.« Hinter mir stritt Scarlett sich gerade mit so einem Nörgler darüber rum, was Weintrauben kosteten. »Macht sieben Dollar neunundachtzig.«
Sie gab mir einen Zehndollarschein. »Wie wär’s, ich lade dich heute Abend zum Essen ein«, sagte sie.
»Eigentlich bin ich ziemlich müde«, meinte ich.
»Ich möchte etwas mit dir besprechen.« Die Schlange vor meiner Kasse war lang, die Leute traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, niemand – weder die Kunden noch ich – hatten Zeit für meine Mutter samt ihrer Pläne. »Ich hole dich ab.« Sie nahm Wechselgeld nebst Weinflasche und ging los, Richtung Ausgang.
»Mom, du kannst nicht einfach . . .«, begann ich, doch |209| sie rief bloß munter: »Bis später!« Verschwand und ließ mich einfach da sitzen – Auge in Auge mit einem sehr fetten Mann, der zwei Riesenpackungen Knabberzeug und eine Flasche Malzbier kaufte –, ohne jede Möglichkeit, zu entfliehen oder ihr nachzulaufen. Doch eine andere Chance hatte sie in letzter Zeit nicht mehr. Wenn sie etwas von mir wollte, musste sie mich in den Schwitzkasten nehmen und zu Boden ringen, damit ich stillhielt und zuhörte. Ich hatte den ganzen Nachmittag über nichts anderes mehr im Kopf als: Was hatte sie vor? Womit würde sie mich als Nächstes austricksen?
Als ich um sechs aus dem Supermarkt kam, wartete sie bereits mit laufendem Motor in der Lieferzone. Ich stieg ein. Sie lächelte mir zu. In dem Moment sah sie so glück lich aus, dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich den ganzen Nachmittag über solche Panik vor diesem Treffen geschoben hatte.
Wir fuhren zu einem kleinen italienischen Restaurant, nur ein paar Straßen von uns entfernt. Auf den Tischen lagen Karodecken; es gab ein Pizzabuffet. Nach einem halben Stück Pepperonipizza und ein wenig Smalltalk über Schule und
Milton’s Supermarket
beugte sie sich zu mir vor und sagte: »Ich möchte mit dir über Macon sprechen.«
Wie sie das sagte! Als würde sie ihn kennen, als wären sie alte Freunde. »Macon«, wiederholte ich knapp.
»Ja.« Sie trank einen Schluck Wein. »Um ehrlich zu sein, Halley, bin ich mit dieser Beziehung nicht gerade glücklich.«
Tja, ist es deine Beziehung?
, dachte ich im Stillen. Doch ich schwieg. Was jetzt kam – das spürte ich genau –, lief nicht auf eine Diskussion, einen Dialog, eine Auseinandersetzung zweier ebenbürtiger Partner, in der meine |210| Meinung etwas zählte, hinaus. Wenn es um meine Mutter ging, kannte ich mich aus. Kannte sämtliche Gesichtsausdrücke und Tonfälle, konnte jeden Seufzer übersetzen. Denn bei ihr war ein Seufzer nicht einfach bloß ein Seufzer – nein, jeder einzelne hatte eine bestimmte, verborgene, komplexe Bedeutung.
»Seit du mit Macon zusammen bist . . .« Ich wusste, dass sie sich auf diesen Moment sorgfältig vorbereitet, dass sie möglicherweise sogar auf dem Block, auf dem sie sich sonst Notizen für ihre Manuskripte machte, einen Entwurf für diese kleine Rede skizziert hatte; ». . . hast du die Schule geschwänzt und bist prompt erwischt worden, du kommst abends nicht mehr pünktlich nach Hause, dein Benehmen insgesamt ist schwierig und nicht leicht zu ertragen. Du scheinst permanent auf Konfrontationskurs zu sein. Ich erkenne dich, ehrlich gesagt, kaum noch wieder.«
Ich sagte nichts. Stocherte auf meiner Pizza herum, obwohl mir rapide der Appetit verging. Sie hingegen geriet gerade erst richtig in Fahrt und redete weiter auf mich ein.
»Du siehst sogar anders aus als früher.« Sie redete viel zu laut und das Thema gehörte echt nicht hierher, aber genau deshalb hatte sie das Restaurant ja ausgesucht, das Ganze an diesem Ort inszeniert. Ich sackte tief in meinem Stuhl zusammen. »Wenn du heimkommst, riechst du nach Zigarettenrauch. Du wirkst zerstreut, apathisch, lustlos.
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