Someone like you - Dessen, S: Someone like you
von Standby. »Mom?«
Ich sah, wie sich ihre Schultern bei einem langen, tiefen Atemzug einmal hoben und wieder senkten, bevor sie sich zu mir umdrehte. Ihr Gesicht wirkte ruhig, gefasst. »Ich weiß es nicht, Schatz. Wir müssen abwarten.«
»Mom . . .« Ich wollte irgendwie kitten, was zwischen uns war, die Kluft überbrücken, die ich geschaffen hatte, indem ich mich weigerte Macon mit ihr zu teilen.
Mich
mit ihr zu teilen, mich ihr mitzuteilen.
»Julie, in einer Stunde geht ein Flug.« Wenn mein Vater laut etwas sagte, war es immer gleich zu laut. Seine Stimme war einfach zu groß für kleine Räume; donnernd hallte sie von den Wänden des Flurs wider. »Du hättest zwar ziemlich lange Aufenthalt in Baltimore, aber eine günstigere Alternative scheint es nicht zu geben.«
»In Ordnung«, antwortete sie ruhig. »Ja, buch den Flug, ich packe schnell ein paar Sachen zusammen.«
»Mom, ich wollte nur –«
Doch sie unterbrach mich: »Jetzt nicht, mein Schatz, keine Zeit.« Strich mir im Vorbeigehen geistesabwesend über den Arm. »Ich muss packen.«
Also hockte ich in meinem Zimmer auf meinem Bett. Die Tür stand offen, mein Matheheft lag aufgeschlagen auf meinem Schoß. Ich hörte, wie Schranktüren geöffnet und wieder geschlossen wurden, hörte meine Mutter packen, hörte gedämpft die beruhigende Stimme meines Vaters. |217| Am Schlimmsten war es allerdings, wenn es plötzlich still wurde; dann spitzte ich die Ohren und hoffte inständig auf ein Wort, ein Geräusch. Alles war besser als sich vorzustellen, was geschah, wenn ich nichts hörte, wenn sämtli che Geräusche im Keim erstickt wurden. Denn dann weinte sie.
Schließlich kam sie zu mir ins Zimmer, umarmte mich und wuschelte mir übers Haar, wie früher, als ich klein war. Sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie werde später anrufen, alles sei okay. Sie hatte vergessen, was ich ihr an den Kopf geknallt hatte, was im Restaurant geschehen war. Ein einziger Anruf genügte und sie war selbst wieder Tochter. Einfach so.
|218| Kapitel elf
Dadurch, dass meine Mutter weg war, hatte ich plötzlich jede Menge Freiheit – so als hätte jemand ein Gefängnis tor aufgeschlossen und
Hau ab
gesagt. Die allmorgendliche Radiosendung meines Vaters hatte nach wie vor extrem gute Quoten, was bedeutete, dass er fast jeden Nachmittag und Abend wegen irgendwelcher Events oder Werbeveranstaltungen unterwegs war. Was er in den vergangenen paar Monaten nicht alles schon hinter sich gebracht hatte: eine verlorene Live-Wette gegen seinen Kollegen vom Verkehrsfunk mit der Konsequenz, dass er in einem Club in der Innenstadt einen – glücklicherweise nicht kompletten, deshalb jedoch nicht minder peinlichen – Strip vorzuführen hatte; eine Million Cocktailpartys für Leute, die bei seiner und anderen Radioshows etwas gewonnen hatten; eine Runde Wrestling im
Hilton
für einen guten Zweck, und zwar gegen einen Kerl mit dem eindeutigen Bühnennamen »Der Dominator«. Von dieser Aktion behielt mein Vater als Andenken jede Menge Beulen, blaue Flecken und ein angeknackstes Nasenbein zurück, das dick einbandagiert werden musste. Er war allerdings mächtig stolz darauf und erzählte in den darauffolgenden Tagen während seiner Sendung jeden Morgen mit Begeisterung, welche Probleme er derzeit |219| schon beim schlichten Schnäuzen habe; außerdem gab er einen blöden Nasenpopelwitz nach dem anderen von sich, während ich mich auf dem Weg zur Schule vor lauter Peinlichkeit winden musste, und das jeden verdammten Morgen.
Das Telefon bei uns zu Hause hörte überhaupt nicht mehr auf zu klingeln. In der Regel meldete sich am anderen Ende der Leitung ein hektischer Typ namens Lottie, der das Leben meines Vaters bis in die letzte Sekunde durchorganisierte. Ein Termin jagte den anderen: Auftritte im Einkaufszentrum, Besprechungen wegen irgendwelcher Promotions und natürlich ultradämliche Aktionen wie die mit dem Wrestler, bei denen er sich nicht nur zum Affen machte, sondern seine Gesundheit aufs Spiel setzte. Meine Mutter fand zwar, mein Vater wäre zu alt und zu gebildet für diese Art von Schwachsinn, doch er genoss es. Und vergaß völlig darauf zu achten, was ich tat und wo ich mich herumtrieb. Wir sahen uns kaum noch, höchstens mal spät am Abend, wenn ich auf dem Weg zum Zähne putzen an seiner Schlafzimmertür vorbeiging und Gute Nacht sagte. Ohne dass wir darüber redeten, schlossen wir eine Art Pakt: Ich würde mich benehmen und zu Hause sein, wenn ich zu Hause
Weitere Kostenlose Bücher