Someone like you - Dessen, S: Someone like you
gar nicht zu bemerken, dass wir ihn mit offenen Mündern anstarrten.
»Weiß nicht«, erwiderte Scarlett mit belegter Stimme und ging ein paar Schritte Richtung Treppe. Meinem Blick wich sie plötzlich aus. »Ich gehe mal nachsehen.«
»Das wäre nett.«
Da standen wir also, Vlad und ich. Hatten uns beide verwandelt, entpuppt, neue Gestalt angenommen. Von oben drangen Stimmen zu uns herunter, erst Scarletts, dann Marions. Auf dem Küchentisch lag die Schwangerschaftsbibel, aufgeschlagen beim sechsten Monat. Scarlett hatte einige Stellen mit pinkfarbenem Marker angestrichen.
»Ich muss los«, sagte ich in die Stille hinein. Vlad, der gerade sein Schwert zurechtrückte, blickte auf und sah mich verwundert an. »Cameron, sagst du bitte Scarlett Tschüs von mir?«
»Ja«, antwortete Cameron zögernd. »Sicher.«
»Schönen Abend noch«, rief Vlad mir nach, während ich zur Hintertür ging. »Und ein gutes neues Jahr!«
Ich war schon halb durch den Garten, als ich mich noch einmal zum Haus umwandte. Die Fenster über mir waren hell erleuchtet. Ich wünschte mir, Scarlett stünde hinter einem davon, die Hand gegen die Scheibe gepresst – unser altes Geheimzeichen. Doch sie war nirgends zu sehen. Kurz überlegte ich, ob ich zurückgehen sollte. Aber es war kalt draußen und ich schon ziemlich spät dran. Deshalb lief ich weiter Richtung Spruce Street, wo Macons Wagen mit laufendem Motor am Straßenrand stand und auf mich wartete. Macon – und was an diesem Abend geschehen würde.
|278| Die Party fand bei irgendeinem Typen namens Ronnie statt, der etwas außerhalb wohnte. Um dorthin zu kommen, mussten wir zunächst auf ein paar kurvigen Schotterstraßen fahren, vorbei an billigen Fertighäusern und alten, halb verfallenen Scheunen, bis wir schließlich vor einem einfachen, einstöckigen Backsteinhaus hielten, über dessen Eingang eine blaue Glühbirne hing. Einige Hunde rannten uns bellend entgegen; im Hof und auf den Stufen vor dem Haus lungerten jede Menge Leute rum. Niemand, den ich kannte.
Als ich durch die Haustür trat und prompt an einem Stapel Bierfässer im Eingangsflur vorbeikam, schoss mir durch den Kopf, was meine Mutter wohl denken würde. Ihr würde garantiert das Gleiche auffallen, das auch ich sofort bemerkte: die billige Wandtäfelung aus Eichenholzimitat, der Wohnzimmertisch übersät mit vollen Aschenbechern und leeren Bierflaschen, der braungelbe Flokati, der sich unter meinen Schuhsohlen quietschig nass anfühlte. Hier war es ganz und gar nicht wie bei Ginny Tabor daheim, wo man trotz Party wusste, dass es sich um ein richtiges Zuhause handelte, mit Eltern, gemeinsamen Mahlzeiten, Weihnachten feiern.
Ein Haufen Leute hockten nebeneinander auf dem Sofa und ließen sich voll laufen. Der Fernseher neben ihnen war zwar angeschaltet, aber über den Bildschirm flimmerte nur stummes weißes Rauschen. Die Musik war so laut, dass ich überhaupt nichts mehr hörte. Während ich Macon in die Küche folgte, musste ich mehrmals über Leute hinwegsteigen, die auf dem Boden oder an der Wand saßen.
Er schien alle und jeden zu kennen. Ständig haute ihm jemand zur Begrüßung auf die Schulter, sein Name, der von vielen verschiedenen Stimmen ausgesprochen wurde, |279| schwebte als Klang über meinen Kopf hinweg. In der Kü che stand ein Bierfass; Macon zapfte zwei Plastikbecher voll, einen für mich, einen für ihn. Ich machte mich so klein wie möglich, um mich in der engen, vollen Küche hinter ihn zu quetschen.
Macon gab mir mein Bier. Vor lauter Nervosität stürzte ich fast den ganzen Becher auf einmal runter. Grinsend füllte er meinen Becher auf und signalisierte mir ihm zu folgen. Wir liefen an einem mit Bierdosen überquellenden Mülleimer vorbei durch einen Flur und landeten vor einer Schlafzimmertür.
»Klopf klopf«, sagte Macon beim Eintreten. Auf dem Bett saß ein Typ, neben dem ein Mädchen lag, die mit dem Kopf nach unten auf dem Fußboden etwas suchte. Der Raum war klein und dunkel, nur von einer Kerze erleuchtet, die am Kopfende des Bettes auf einem Regal mit geschlossenen und offenen Fächern stand. Meine Eltern besaßen ein ähnliches Möbelstück.
»Wen haben wir denn da?«, sagte der Typ auf dem Bett zur Begrüßung. Er hatte kurze Haare und eine Tätowierung auf dem Arm. »Hallo, Mann, was geht ab?«
»Nichts Besonderes.« Macon setzte sich aufs Fußende. »Das ist Halley. Halley, das ist Ronnie.«
»Hi«, sagte ich.
»Hallo.« Ronnie sprach mit einer tiefen, rauen Stimme und
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