Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
geschleudert. Nur wenige Sessel hingen in ihren Metall-Halterungen, teils intakt, teils nichts als bunt gefärbte Plastiktrümmer. Die Vid-Schirme an der Wänden waren heruntergerissen und lagen zerborsten auf dem Fußboden, umgeben von zahllosen Gipskartonbrocken.
In praktisch jedem noch halbwegs nutzbaren Sessel hockte eine Leiche. Es hätte genauso gut eine gottverdammte Gemeinderatsversammlung sein können, wären nicht sämtliche Anwesenden völlig blutüberströmt gewesen und hätte nicht jeder von ihnen diese riesigen, klaffenden Wunden am Hals und in der Brust. Weitere Leichen lagen einfach auf dem Boden; einige lehnten auch an den Wänden. Alle sahen sie aus, als hätte sich eine riesige blutgefüllte Pustel auf ihrer Brust gebildet und wäre dann geplatzt. Einige zeigten uns das ewige Grinsen, das sich nun einmal ergibt, wenn man keinen Unterkiefer mehr hat. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand sich eine hohe Theke; früher dürften die Mitarbeiter des Krankenhauses von dort aus die Patienten dirigiert haben. Zur Linken davon fand sich eine massiv wirkende Sicherheitstür. Entweder mussten wir jetzt durch genau diese Tür hindurch oder über den Tresen hinweg. Während ich noch in den Raum hineinstarrte und mich bemühte, mir alle Details einzuprägen und meine Atmung zu beherrschen, wurde die Nova-Lampe noch heller und flackerte dann rhythmisch, sodass dieses Mausoleum abwechselnd in völlige Dunkelheit und in schmerzhaft gleißendes Licht getaucht wurde. Ich blickte zu Lukens, die sich ihre ungebärdige Strähne aus dem Gesicht pustete. Mit einer resignierten Geste machte sie klar, dass sie mehr Lampen nicht hatte.
»Na gut«, meinte Belling nach kurzem Schweigen. »Legen wir los! Wir sollten uns in zwei Gruppen aufteilen.«
Ich nickte. Zwei Gruppen, die an jeweils einer Seitenwand entlang vorsichtig vorrückten. Nur dumme Arschlöcher stürmten einfach in einen Raum hinein und sicherten sich nicht gleich nach so vielen Seiten wie möglich ab – so konnte man leicht von Scharfschützen ins Visier genommen oder von jeder nur erdenklichen Seite angegriffen werden. Wenn man eine Wand zur Verfügung hatte, dann nutzte man die verdammt noch mal auch!
»Ich bleibe bei Gates«, verkündete Lukens in ihrer gedehnten Art zu sprechen. »Das ist mein persönlicher Aktivposten.«
»Dein Aktivposten wird dir beizeiten einen Daumen brechen«, murmelte ich vor mich hin und schüttelte den Kopf. Bei der ersten Gelegenheit, in der Belling einen Vorteil davon hätte, würde er Marko einfach ins offene Messer laufen lassen. »Nein, du gehst mit unserem Methusalem hier!« Die Sturmtrupplerin wollte gerade schon protestieren, doch ich legte ihr die Hand auf den Mund. »Ich bin nicht dein Aktivposten«, sagte ich. »Wenn du nicht bereit bist, mich hier und jetzt zu erschießen, wirst du auf jeden Fall mit Belling gehen.«
Ich ließ die Hand wieder sinken, griff hinter mich und zog Marko recht unsanft zu mir. Er stieß einen kurzen Quäklaut aus. »Du hingegen«, sagte ich, »bist mein Aktivposten.« Ich beugte mich nah an sein Ohr. »Bleib zwischen mir und der Wand! Die Kanone, die du von Belling hast, hältst du immer schön fest, aber lass verdammt noch mal den Finger vom Abzug – es sei denn, du bist so verzweifelt, dass du kein bisschen Angst mehr vor mir hast, okay?«
Einen Moment lang starrte der Techie mich nur an. Dann zog er die Waffe aus der Tasche und hielt sie ungeschickt fest, den gestreckten Zeigefinger parallel zum Lauf gelegt. »Okay«, sagte er mit bebender Stimme. In dem Augenblick hatte ich ernstlich Mitleid mit ihm. Er hatte sein ganzes Leben in einem Labor verbracht und sich eine solche Lage hier gewiss niemals herbeigewünscht. Auch ihm gegenüber war das Universum in höchstem Maße unfair. »Pass auf, Mann: Ich brauche dich, okay? Ich werde versuchen, dein Überleben zu sichern.«
Das war so ehrlich, wie es nur eben möglich war, und es schien, als wisse Marko das wirklich zu schätzen. Natürlich war es eigentlich auch egal, wenn meinetwegen noch eine weitere Person das Zeitliche segnete: Die Liste war ohnehin schon endlos. Aber ich brauchte nicht einfach nur tatenlos mitansehen zu müssen, wie die Welt mich fertigmachte – und all die anderen Menschen gleich noch mit dazu. So allmählich sollte alles, was geschah, wieder Sinn ergeben -je eher, desto besser.
Der Gestank wurde schlimmer und schlimmer. Bei den ersten Schritten konzentrierte ich mich noch auf die vordersten
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