Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
Zielperson wartete, wenn ich bei ›Pick’s‹ saß und alle meine Drinks anschreiben ließ, wenn ich Stunden oder gar Tage in irgendwelchen Schutzräumen verbracht hatte, während die System-Bullen das ganze Gebäude scannten und noch einmal scannten und verdammte Scheiße noch einmal scannten. Mit einer letzten, schmerzhaften Streckbewegung – der Glassplitter hinterließ eine weitere Schnittwunde, dieses Mal auf meiner Wange – gelang es mir, den Griff mit Daumen und Zeigefinger zu umschließen und langsam, ganz langsam die Waffe aus dem Hals des Piloten zu ziehen. Warmes Blut tropfte mir ins Gesicht, ich stemmte die Füße gegen die Instrumententafel unter mir und zerrte weiter an der Waffe, bis ich sie endlich ganz mit der Hand umschließen konnte. Wieder schloss ich die Augen, sog angestrengt Luft in meine zusammengequetschte Luftröhre, mühte mich nach Kräften, meine Gedanken zu ordnen. Dann versuchte ich den Sicherheitsgurt zu ertasten und machte mich dann daran, ihn vorsichtig mit der Klinge zu bearbeiten. Ich hielt das Messer nur mit Daumen und Zeigefinger, sägte vorsichtig, in winzigen, konzentrierten Bewegungen.
Über mir ächzte und knarrte etwas – es war ein metallischer Laut. Nicht sehr beruhigend.
Ich war gut darin, meine Gedanken zu ordnen. Ich hatte einen richtigen Trick dafür entwickelt. Ich stellte mir den Himmel vor, perfekt grau und wolkenverhangen. Ich stellte ihn mir völlig friedlich vor – den Himmel, wie er war, kurz bevor die Stadt zum Leben erwachte, dieses winzige Zeitfenster, in dem jeder bewusstlos war oder schlief oder endlich tot war, und es gibt nur noch den Wind und das eigene Atmen und irgendetwas, das in der Ferne klickt oder surrt- Schweber-Verdrängung über Mogadischu oder wo auch immer. Nichts sonst konnte mich erreichen. Nichts anderes existierte überhaupt. Das funktionierte immer, und schließlich verschmolz der ganze Himmel zu einer formlosen, leeren Fläche, und meine Hände und mein Verstand arbeiteten völlig unabhängig voneinander.
Aber jetzt, während ich versuchte, mich loszuschneiden, bekam ich meine Gedanken eben nicht geordnet. Ich sah immer wieder die Leute, die ich getötet hatte.
Sie folgten mir in einer endlosen Schlange, einer Endlosschleife – einschließlich der vier Personen, die zerschmettert und zerfetzt rings um mich lagen. Ich war mir nicht ganz sicher, dass Shockley und sein Kumpel wirklich tot waren. Aber es war schon vernünftig, davon auszugehen. Doch auch wenn ich nicht in einem beliebigen dunklen Raum dicht hinter sie getreten und ihnen für ein paar Yen eine Kugel in den Kopf verpasst hatte, so hatte ich sie eben doch getötet. Ich sah jede einzelne Person, die ich jemals für Geld umgebracht hatte, stellte sie mir in genau dem Augenblick vor, in dem mein Auftrag ausgeführt war: geweitete Pupillen, zerfetzte Haut, an der noch Knochen und gelbliches Fett klebten, Pisse und Scheiße, ausgestreckte Hände, flehentliche Bewegungen, so hingen sie da, kopfüber an einer Feuerleiter. Und dann sah ich mich selbst, eine riesige Glasscherbe ragte aus meiner Schläfe, und ich selbst hing hilflos in einem Sicherheitsgurt. Und dann fing die Diashow wieder von vorne an.
Ruckartig durchtrennte die Klinge den Gurt, meine Beine übernahmen das Gewicht meines Körpers, und ich war frei. Vorsichtig bewegte ich mich von dieser verdammten Scherbe weg, bis sie mir nichts mehr anhaben konnte, und kletterte durch die geborstene Windschutzscheibe des Cockpits hinaus, robbte durch Splitter und Erdreich ins Freie. Keuchend kroch ich aus dem flachen Krater, den der Schweber gerissen hatte, rollte mich auf den Rücken, keuchte weiter, spürte wie der Schnee auf meinem Gesicht brannte. Als ich endlich wieder zu Atem gekommen war, setzte ich mich auf und blickte mich um. Ein paar Meilen südlich von mir konnte ich die Stadt sehen, und zu meiner Rechten lag der gottverdammte Hudson. Schwarz und träge und so boshaft wie immer strömte er dahin. Inwood, dieses trostlose Nichts nördlich von Manhattan, war vor der Vereinigung und den Ausschreitungen Teil der Stadt gewesen. Aber soweit ich mich erinnern konnte, hatte es dort nie etwas anderes gegeben als bloß überwucherte Felder, geborstenes Pflaster und jede Menge Schutt. Ich kämpfte mich auf die Beine; mein Schädel hämmerte bei jeder einzelnen Bewegung. Meine Arme waren taub. Bald hatte ich meine Zigaretten wiedergefunden. Sie waren zerknautscht und feucht. Ich fischte die besterhaltene von ihnen heraus
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