Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
näherten uns dem Flussufer ohne einen einzigen Laut, vom leisen Schwappen des Wassers und dem Keuchen der beiden mageren Mädchen abgesehen. Dort sah ich undeutlich die Silhouette eines hochgewachsenen, gut gebauten Mannes mit hoch aufgetürmtem Haar. Er trug einen langen Mantel, stand einfach nur am Ufer und rauchte eine Zigarette. Ich hatte keine Schusswaffe dabei, aber ich hatte immer noch mein Messer. Ich verbarges in der Handfläche, sodass man es nicht sehen konnte. Bislang war an diesem Tag so ziemlich alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte, und eine weitere Überraschung würde mich eigentlich gar nicht überraschen.
Als das Skiff vielleicht noch einen halben Meter vom Ufer entfernt war, drehte sich mir der Mann zu, breitete die Arme aus und öffnete so auch seinen Mantel – das internationale Zeichen für: Ich werde dich nicht umbringen. In dem Moment begriff ich auch, dass ich diesen Mann schon kannte.
»Mistah Cates«, sagte er und neigte sich zu mir. Diese gewaltige, unglaubliche Mähne wehte sanft im Wind. »Ich bin hier, um Ihnen als gottverdammter Kammerdiener behilflich zu sein -oder irgendein so ’n Scheiß halt.« Rings um uns war nach wie vor das Schwappen des Wassers zu hören. Der riesige Schwarze vor mir hatte den größten Afro, den ich jemals gesehen hatte. Rotbraun erhob er sich weit über das dreieckige Gesicht seines Besitzers und schwankte im Wind.
»Dich kenne ich doch«, sagte ich und zeigte auf ihn. »Jabáli oder irgendsowas in der Art, richtig? Ein Händler aus Baltimore, stimmt’s?«
Er grinste und verneigte sich ein wenig vor mir. »Aus Charm City, genau«, antwortete er. »Seit ein paar Monaten hänge ich viel bei ›Pick’s‹ rum, und Sie haben mir den einen oder anderen Job verschafft.« Er kniff die Augen zusammen und kratzte sich am Kopf, während ich nicht sonderlich elegant aus dem feuchten Skiff kletterte und tief im Uferschlamm versank. »Ihr Wasauchimmer, dieser Chip in Ihrer Hand … ist ja auch egal, die haben Sie auf dem Gitternetz gesehen und so, und ich war der Einzige, der noch auf den Beinen war, also hat man mich ausgeschickt, Sie abzuholen.«
Keuchend kam ich zu ihm und bedeutete ihm, mir eine Zigarette zu geben. Hinter mir paddelten die beiden Mädchen einfach wortlos davon, steuerten wieder den Fluss hinauf und suchten nach einer weiteren verzweifelten Seele, die irgendwie nach Manhattan kommen musste. Während der riesenhafte Bursche nach seinen Zigaretten suchte, nutzte ich die Gelegenheit, mir diesen Jabali etwas genauer anzuschauen.
Ich hatte ihn tatsächlich schon ein paar Mal angeheuert, um die eine oder andere Gestalt aufzuspüren, und bislang hatte er gute Arbeit geleistet. Ich hatte schon häufiger ›Spürhunde‹ eingesetzt, um irgendwelche Typen aufzuspüren. Revolverhelden mussten schließlich immer genau wissen, wo sich ihre Zielpersonen überhaupt befanden, bevor sie zuschlagen konnten.
Ich lächelte den Mann an, als er sein Feuerzeug aufschnappen ließ, und behielt ihn genau im Auge, während ich mir die Zigarette anzündete. Ich sah sofort, dass er wirklich Angst hatte – und das war auch gut so: Im System ging es immer nur um das Image, das man eben hatte. Jabali wusste über mich nur, dass ich schon viele Leute umgebracht hatte, darunter auch zahlreiche System-Cops – und dass man mich nie dafür belangt hatte. Und ich war reich, und ich arbeitete mit Canny Orel zusammen -so lauteten zumindest die Gerüchte. Und da stand ich nun, blut- und dreckverkrustet, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass mich ausgerechnet die Scheiß-Gesundheitsbehörde geschnappt hatte, und grinste ihn an, als sei ich in der Stimmung, jemanden umzubringen, einfach nur um ein wenig Dampf abzulassen.
Dann grinste mich Jabali entspannt an. »Also, Mistah Gates«, sagte er und betonte die letzte Silbe des ›Misten, sodass es etwas weniger respektvoll klang, »was hätten Sie denn gerne? Es sieht ja nun ganz so aus, als wäre ich das Einzige an Gefolge, was Sie bei sich haben werden.«
Ich verzog das Gesicht. Mit jemandem, der so fröhlich dreinschaute, konnte ich mich jetzt nicht anlegen. Ich starrte in die Nacht hinaus. Das Boot war schon nicht mehr zu sehen, die beiden armen Mädchen verschwunden. »Bring mich zu Gleason!«, sagte ich und schluckte heftig. »Ich will sie sehen.«
Peinlich berührt wandte er den Blick ab. »Scheiße, Boss«, sagte er. »Ich weiß ja nicht. Vielleicht sollte ich Sie lieber zu einer Bar bringen, damit ein
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